Ich habe keine Freunde – außer Nina. Nina würde sagen: Klar haben wir Freunde, eine ganze Menge sogar. In unregelmäßigen Abständen treffen wir uns, reden, erzählen von vergangenen Ereignissen, essen und trinken gemeinsam, umarmen uns beim Abschied. Das machen Freunde so. Sie gehen auch gemeinsam ins Kino oder ins Theater. Sie laden sich gegenseitig zu den Geburtstagspartys ein und halten für Höflichkeit, sogar für einen Freundschaftsdienst, kein Wort darüber zu verlieren, wie öde und oberflächlich die sich in wenigen Variationen wiederholenden Gespräche geworden sind. Es ist aber besser, diese belanglosen – und dennoch emotional mächtig aufgepoppten – Gespräche fünf oder sechs Stunden lang zu ertragen, als keine Freunde zu haben. Und weil ich maßlos hohe und wohl auch extravagante Ansprüche an Freundschaften habe, muss ich sagen, es sind keine richtigen Freunde, es sind enge soziale Kontakte. Denn die sind nötig für eine ausgeglichene Psyche. Trotzdem fühle ich mich – zumal in größeren Gruppen – wie Robinson auf der Insel am Donnerstag. Nina würde übrigens sagen, ich sei gefühlskalt, wenn ich unsere Freunde als bloße „soziale Kontakte“ bezeichne.
Ein echter Freund ist ein Spielkamerad. Die Menschen in unserem Freundeskreis sind eher keine Spieler. Vielleicht wären sie es gern. Ich weiß es nicht. Ich muss erklären, was ich meine, wenn ich sage, ich sei ein Spieler. Es geht nicht um Glücksspiele, Poker, Roulette und dergleichen, sondern um Spiele, die glücklich machen, Gedankenspiele nämlich, die allein zu spielen keinen Spaß machen und dann nur bedingt glücklich machen. Ich habe Fantasie im Übermaß. Die reizt dazu sie weidlich auszukosten. Wie wunderbar, auf Menschen zu treffen, die bereit sind, kleine Absurditäten, die jemand äußert, sofort aufzugreifen und ohne relativierende Fußnote fortzuspinnen:
„Ich frage mich, ob Putin in letzter Zeit überhaupt noch Sex hat. Und wenn ja, mit wem?“ – „Schau dir seine rechte Hand an, schlaff, komplett überanstrengt.“ – „Manchmal stelle ich mir vor, wie Putin abends zu Bett geht, und frage mich, wie es ihm gelingt einzuschlafen und wie es ist, am nächsten Morgen aufzuwachen.“ – „Im ersten Moment siehst du die Sonne durchs Fenster blinzeln und denkst, was für ein wundervoller Morgen. Du könntest im Oktoberdunst durchs feuchte Gras einer Apfelplantage schlendern und von deiner ersten Liebe träumen, die ebenfalls an einem sonnigen Oktobertag begonnen hat. Aber dann kommt der jähe Elektroschock: Herz, Kopf, rote Ohren. Oh Scheiße, ich Zauberlehrling hab‘ ja ‘nen Krieg angefangen, da muss ich mich auch heute ums Töten und Zerstören kümmern. Wie peinlich!“ – „Und zur Ablenkung holt er sich erst mal einen runter.“ – „Und schaut dabei einen Porno auf einem riesigen Bildschirm auf der gegenüberliegenden, zehn Meter entfernten Wand.“ – „Milf.“ – „Gay?“ – „Nee, kein Porno, eher Pinocchio, Heidi oder Biene Maja, so eine regressive Phase vor dem Eisbaden und dem Eiweißfrühstück. Pornos nur abends vorm Einschlafen.“
Nina ist ein prima Spielkamerad. Oft, manchmal nicht. Manchmal lange nicht, wenn sie Stress hat. Gerade hat sie Stress, beruflich. Jede meiner auffälligen oder unauffälligen Aufforderungen zum Spiel quittiert sie mit Augenrollen oder indirekten Vorwürfen. Dann offenbaren sich die beiden unterschiedlichen Identitätsphilosophien. Ja, ich hänge das mal ganz hoch auf und spreche von Philosophie, hake das aber möglichst schnell ab: Woraus auch immer Persönlichkeit und Identität eines Menschen resultieren, ob Genetik, oder sozialer Prägung, oder beidem, irgendwann ist die Kirschtorte fertig und kann kein Apfelkuchen mehr werden, dann bin ich dieser eine unverwechselbare Mensch, der nicht mehr aus seiner Haut herauskann. Was verbal oder nonverbal aus ihm herauskommt, ist Reflex seines Innenlebens, dem er qua Identität hilflos ausgeliefert ist. Jede seiner Äußerungen ist prinzipiell interpretierbar und auf seine relativ statische Persönlichkeit zurückzuführen. Mit anderen Worten: Alles, was der sagt oder tut, sollte man ernst nehmen und als Puzzleteil einer rekonstruierbaren Persönlichkeit betrachten, die kaum etwas anderes im Sinn hat, als andere zu manipulieren, in die Irre zu führen, ihr wahres Ich zu verschleiern, um ihre egoistischen Ziele zu erreichen. Erkenne deinen Mitmenschen, er könnte dir feindlich gesonnen sein! Obacht! Tadle rechtzeitig, bring deine eigenen Interessen und Ziele in Stellung! Erweise dich selbst als moralisch gefestigte Persönlichkeit! Das wäre die eine philosophische Position. Es ist – trotz gelegentlicher Spielfreude – auch Ninas Position. Die zweite unterscheidet sich nur marginal von der ersten: Der Apfelkuchen wird nicht mehr zur Kirschtorte, aber die Äußerungen des Apfelkuchens können – um im Bild zu bleiben – durchaus die Form von Kirschen und Buttercreme annehmen, sogar von Bratwurst und Wirsing. Die Äußerungen eines Menschen, also seine Worte geben nicht notwendigerweise irgendwelche für die Interaktion zurechtgemachte oder absichtlich gefälschte Kostproben seines wahren inneren Wesens preis, im Gegenteil sind sie Reflex des gesamtgesellschaftlich Denkbaren, Sagbaren und physisch Realisierbaren. Denn alles das sammelt sich in meinem Kopf als potenziell Mögliches. Ich habe nicht mich selbst im Kopf, sondern die Welt, die schöne, bezaubernde, beglückende, himmlische, aber auch eklige, abscheuliche, ungerechte, grausame, mörderische, teuflische Welt. Das ist ein riesiger Krimskrams-Laden in meinem Kopf. Und weil ich das alles nicht sein kann, ist es gedankliches Spielzeug. Wenn ich mir eine Geschichte ausdenke, in der ein putziger Hamster bei lebendigem Leib gefesselt, gehäutet, mit einem Kugelschreiber penetriert und anschließend aufgeschlitzt wird, kann daraus kein Hinweis auf meine Persönlichkeit gelesen werden, sondern nur einer auf das grundsätzlich Menschenmögliche. Überall, wo erwartet wird, ich müsse mich sogleich moralisch von dieser Hamsterfantasie distanzieren, das sei ja wohl das Mindeste, vermute ich das Kongruenzmodell der Identität, das davon ausgeht, dass die Worte eines Menschen Ausdruck und Teil seiner Identität sind, in meinem Fall: Sadist und potenzieller Tierquäler. Vertreter dieses Identitätsmodells hüten das Bild, das andere von ihrer Persönlichkeit entwickeln können, wie ihren Augapfel. Das ist selbstverständlich nicht möglich, aber sie versuchen zumindest, weitgehende Kontrolle darüber zu halten, was die anderen über sie denken könnten. Sie unterstellen, dass es alle so machen, außer vielleicht Schwachsinnige und empathielose Narzissten. Wenn ich also sagen würde, mich würde es interessieren, wie aufregend es wäre, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, würde Nina darin eine unanständige und sogar verletzende Aufforderung sehen und vermuten, ich könne unsere traute und ausschließliche Eheburg schleifen wollen. Was gar nicht meine Absicht ist, obwohl ich die Vorstellung, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, wirklich aufregend finde, was offenbar ein Hinweis auf mein Persönlichkeitsprofil zulässt, dass ich nämlich solche Fantasien mag und das irgendeinen (möglicherweise pathologischen) Grund haben muss. Weil Nina nicht mag, dass ich solche Fantasien habe oder zumindest ausspreche, sage ich nichts. Denn ich weiß, dass sie glaubt, ich würde sagen, was ich wünsche. Wenn sie auf meine Beste-Freundin-Fantasie produktiv antworten würde („Ich glaube nicht, dass ich dich dabei zusehen lassen würde“, oder „Also ich würde mir den Anblick ersparen wollen, wie du Rainer den Schwanz lutschst.“), müsste sie befürchten, ich würde ihre Äußerung als indirekte Zustimmung zu dem Plan, unsere ehelichen Bande zu lockern, auffassen.
Das ist ein Dilemma. Nina hat ihre Gedankenpolizei stark verinnerlicht, schon wegen ihrer katholischen Erziehung, da dringt kaum ein vermeintlich anstößiger Gedanke vorbei ins Bewusstsein. Glaube ich jedenfalls. Sie weiß nicht einmal was von der Polizeistation mit angeschlossenem Geheimdienst in ihrem Kopf. Ich dagegen liefere mir tagtäglich kafkaeske Scharmützel mit meinen internen Vorgesetzten. Weil die verhindern möchten, dass Nina oder unsere gemeinsamen sozialen Kontakte mich mit meinen Gedanken identifizieren, die ja gar nicht meine persönlichen Gedanken sind, sondern im besten Sinne allgemeine. Das Dilemma ist noch vielschichtiger: Wenn ich einen Gedanken äußere, der prinzipiell (mit Blick aufs grundsätzlich Menschliche) wünschenswert ist, obwohl religiös oder kulturell tabuisiert oder aus Tradition geächtet, besitzt er doch auch einen verlockenden Möglichkeitswert. Wenn ich sage, ich stellte mir Ninas Zunge an Henrikes Vulva aufregend vor, ist das zwar keine Aufforderung, sich das als Wochenendprojekt vorzunehmen, aber es ist doch eine Aufforderung mit diesem Gedanken zu SPIELEN, denn schon der Gedanke könnte auch für Nina aufregend, um nicht zu sagen erregend, sein. Und mit Gedanken zu spielen, bedeutet, neue Möglichkeiten zu bedenken und schließlich auch zu erproben. (Kommentar von Nina: „Siehst du, wenn du vermeintlich ohne jede Absicht jede deiner erotischen Fantasien herauspupst, verfolgst du also doch deine Absichten. Was soll ich sagen? Sophist, Manipulator!) Ich meine, wenn wir alle Gedanken zunächst einmal zulassen und mit ihnen spielen, gelingt es vielleicht doch noch, eine bessere Welt zu erschaffen, jedenfalls wenn wir nicht davon ausgehen, dass wir bereits in der besten aller möglichen Welten leben. Okay, das Leibniz-Zitat war rhetorisch gemeint. Wir leben selbstverständlich in einer rundum verbesserungswürdigen Welt bzw. Gesellschaft bzw. Kultur bzw. Weltgemeinschaft. Zum Beispiel leben wir in einer Welt, in der Männer Kriege führen, Frauen unterdrücken und Frauen töten, weil sie Frauen sind. Geht’s noch unheilvoller? Wir brauchen ein umfassendes Therapieprogramm für die Menschheit. Und ich habe mir eins ausgedacht:
Ein Therapiekonzept, das zu einer Graswurzelbewegung wird und die Welt friedlicher machen wird.
Ein ganzes Wochenende verbringen sechs Personen (drei weiblichen und drei männlichen Geschlechts, soweit sich das überhaupt so klar definieren lässt) gemeinsam in einer speziellen Unterkunft, wo sie gemeinsam essen, trinken und schlafen. Das therapeutische Kernstück besteht in einem erotischen und sexuellen Ritual, bei dem zunächst zwei gemischte Gruppen gebildet werden. Alle sind nackt. Jede Person innerhalb der Gruppe wird auf einer Matratze oder auf einer Massageliege ausführlich von den beiden anderen gestreichelt, leicht massiert, genital erregt und schließlich auch mindestens einmal zu einem angenehmen Orgasmus gebracht. Gemischte Gruppen heißt: Auch heterosexuelle Männer versetzen Männer in Erregung und verhelfen ihnen zum Orgasmus, heterosexuelle Frauen kümmern sich sanft um Höhepunkte anderer Frauen, Frauen und Männer bringen sich gegenseitig zum Orgasmus. Was zunächst mit Widerwillen getan werden mag, wird sich nach mehreren therapeutischen Wochenenden vertraut und schön anfühlen. Die Gruppen mischen sich immer neu, Dicke streicheln Dünne, Alte verwöhnen Junge und umgekehrt. Mehrere Gruppen bilden bald eine diverse Community der Wohltäter. Was sich gut und schön anfühlt, wird nach und nach ins Repertoire übernommen. Homophobie und Misogynie lösen sich in Wohlgefallen auf. Vielleicht werden irgendwann auch Großveranstaltungen stattfinden. Aber das Ritual bleibt. Keine wilden Orgien. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich glaube, Orgien passen nicht ins Konzept. Und Rituale haben religiösen Charakter. Die Therapie bezieht ihre Autorität aus dem Ritual, so wie die Religionen. Das Ritual darf nicht aufgelöst werden. Nun ja, ich in einer Dreiergruppe mit Nina und Henrike, das wäre ganz nach meinem Geschmack. Allerdings – in anderer Konstellation – Rainers Sperma an meiner Hand kleben zu haben, finde ich sehr gewöhnungsbedürftig. Aber nicht ausgeschlossen, dass ich ihm eines Tages sogar eine Prostatamassage spendieren werde. Ein Freundschaftsdienst. Es muss ein gutes Gefühl sein, zu wissen, dass ich den allermeisten Nachbarn in meiner Straße mal einen Orgasmus verschafft habe, oder lachen zu können über die Erinnerung an den alten Herrn, der sich anfangs so ungeschickt angestellt hat und nach ein paar Monaten großes Geschick mit Lippen und Zunge bewies. Vielleicht würde ich mit Anette oder Michaela gern einmal richtigen Sex haben, aber das müsste ich erst mit Nina besprechen, bevor ich die beiden frage.
Wie viele meiner Geschlechtsgenossinnen habe ich das Schicksal und das Aufbegehren der Gisèle Pelicot in den Nachrichten und den Beiträgen der Zeitungen und Magazine mit Entsetzen wie auch Bewunderung verfolgt. Mit Entsetzen, weil mir der Abgrund unbegreiflich bleibt, wie Männer ihren Sexualtrieb an einem Menschen befriedigen können, der betäubt keinerlei Lust auf den sexuellen Akt haben kann, sei er vaginal, oral oder anal. Es ist das Maximum der Objektivierung, Vergewaltigung wehrlosen Fleisches, dem vor und während des Aktes jede Subjektivität, Würde, Menschlichkeit geraubt wurde. Und doch dürften diese massenhaften Vergewaltigungen furchtbare Parallelen in der patriarchalen Geschichte der Menschheit haben. Es sind die vermeintlichen Besitzrechte, die Menschen über andere Menschen zu haben glauben, es ist die durch Status erworbene Macht, die Menschen dies barbarische Instrument in die Hände spielt, anderen ihr Menschsein absprechen zu können, sie dessen zu entkleiden, was sie zu Menschen macht: ihre Freiheit, ihre Würde, ihre Subjektivität, ihre Individualität. Diese totale Macht über Leben und Tod wurde immer wieder zur absurden Hybris, durch die sie denjenigen, die als Nichtige in ihrem Glanz zu schillern wünschten und sich mit ihr identifizierten, die Legitimation erteilte, das Leben anderer zu entwerten, zu schänden und zu vernichten. Als ob es diesen Trieb im Menschen gäbe, ihre Mitmenschen zu quälen, zu missbrauchen oder zu töten. Als ob dieser Trieb nur die Erlaubnis einer Autorität benötigte, um hervorzubrechen. Auch nach der Schoah, noch heute, höre ich Staatenlenker, Generäle sagen, da gebe es Menschen, die keine Menschen seien, sondern Tiere, Bestien. Sie abzuschlachten sei recht und notwendig. Dominique Pelicot hat die Frau, die seinen Namen trägt, als seinen exklusiven Besitz angesehen, so wie viele Männer die Frau an ihrer Seite als Besitz, mehr noch: als Eigentum beanspruchen.
Eifersucht und Neid sind die Gefühle, aus denen das Patriarchat gewirkt wurde, deren Ursprung wir in der Evolution der menschlichen Psyche meinen verorten zu können, weil wir von Kindheit an mit und in ihr verwoben waren. Wir können uns den Menschen nicht ohne Neid und Eifersucht vorstellen. Ist es zu gewagt, diese Gefühle als gesellschaftlich erzeugte soziale Gefühle zu denken?
Als Nordkoreas Präsident Kim Jong-il im Dezember 2011 zu Grabe getragen wurde, weinten die Menschen aus tiefstem Herzen um diesen barbarischen Tyrannen. Als ich die Bilder des Trauerzugs im Fernsehen sah, glaubte ich, sie spielten die Trauer bloß, um nicht als Regime-Gegner identifiziert werden zu können. Heute bin ich mir sicher, dass ihre Trauer echt war. Und das, obwohl ich diese Trauer nicht auch nur ansatzweise nachvollziehen kann. So, wie ich nicht die die Gefühle der Mörder des NS-Regimes nachvollziehen kann, die sie zu ihren Taten befähigten. So, wie ich die 60 oder 80 Männer niemals werde verstehen können, die sich an Gisèle Pelicot vergingen.
Wo Menschen – und genau genommen sind es fast ausschließlich Männer – sich das Recht nehmen, oder sich das Recht von vermeintlich Berechtigten erteilen lassen, andere Menschen oder eine irgendwie kategorisierte Gruppe von Menschen ihrer Rechte, ihrer Würde, ihrer Seele, ihres Lebens zu berauben, herrscht das Patriarchat. Noch in der scheinbar lässlichen, unscheinbaren Entwürdigung, der vielleicht scherzhaft gemeinten Objektifizierung, die mit der Bemerkung über das Aussehen einer Frau einhergeht, wiederholt das Patriarchat diskursiv das Diktum seiner überzeitlichen Gültigkeit und schließt das Gewebe, aus dem es besteht, in aller Betulichkeit und Selbstgewissheit, wo es vielleicht einmal von den wenigen Aufbegehrenden in ohnmächtiger Empörung aufgerissen oder mit messerscharfem Verstand aufgeschlitzt wurde. Und ein tiefer Schnitt ins patriarchale Knotenwerk stellt Gisèle Pelicots schamlose Forderung dar, alle filmisch dokumentierten Vergewaltigungen öffentlich zu zeigen. Darum bewundere ich sie. Weil sie damit vielleicht einen neuen Diskurs initiiert hat, der endlich an alle Gefühle, von denen sich das Patriarchat nährt, tiefe Scham heftet – dass Eifersucht, Neid, Missgunst und die falsche Überzeugung, es gebe irgendetwas oder irgendjemanden, an dem man Eigentum, oder auch nur Besitz haben könne, mit dem unlösbaren Gel der Scham überzogen wird.
„Eine weitere, eine besonders breite Brücke, ist die Fähigkeit von Männern, auch dann Lust zu empfinden, wenn die Frau erkennbar keine Lust empfindet. Diese traurige „Fähigkeit“ wird nicht etwa als ein Gebrechen des Patriarchats empfunden, vielmehr begründet sie in den Augen vieler ein Anrecht, zumindest verlangt sie Verständnis. Lust haben, ohne Lust zu geben: Darauf fußt natürlich auch die Prostitution. Aber woher kommt es bloß, dass bei vielen Männern die Lust der Frau (des Gegenübers) nicht die Bedingung der Möglichkeit eigener Lust ist? Und um hier zum Thema Scham zurückzukehren: Warum beschämt es sie nicht?“
Das schreibt Bernd Ulrich in der ZEIT, Nr. 54/2024. Und ich bin dankbar, das von einem Mann zu lesen.
In Carolin Emckes großartigem Buch „Wie wir begehren“ lese ich, wie noch der patriarchale Blick das Begehren von mir als Frau prägt. Zwar habe ich in mir noch nicht, wie Emcke, das lesbische Begehren entdeckt, erfüllt es mich nun bei erneutem Lesen doch mit Scham, wie ich durch die männliche Brille, gewissermaßen über Bande, auf Frauen schaue und wie sehr mein eigenes Begehren, auch Männern gegenüber, bloß als Side-Chain der männlichen, normativ-heterosexuellen Begierde pulsiert:
Wie oft habe ich den Mann, mit dem ich zusammenlebe, sagen hören, seine Lust auf mich werde durch meine Lust entfacht. Und ich mutmaßte doch den hinter diesen Worten verborgenen Affekt, mich als Objekt seiner Begierde geschickt verfügbar machen zu wollen. Wie oft bemühte er sich, in mir erotische Phantasien zu wecken, forderte er mich direkt oder indirekt auf, meine Lust produktiv und autonom zu entfalten – und ich wähnte den männlichen Manipulator am Werk, der nur seinen eigenen Trieb zu befriedigen suchte, nachdem er meine Bereitschaft herbeigehandelt hatte. Das ist immer noch in meinem Kopf: die berühmte eheliche Pflicht. All die Jahre habe ich meine eigene Sexualität aus der Perspektive des Patriarchats definiert. Das nicht bloß instinktive Unbehagen daran veranlasste mich fortwährend dazu, dieses Persönlichste, Intimste einzuschließen, einzubalsamieren, zu bandagieren, zu mumifizieren. Dass kein Mensch, kein Mann dieser Welt sich Zugriff auch noch auf dies Letzte verschaffen könnte. Habe ich es darum auch vor mir selbst verschlossen?
Einige Seiten weiter lese ich bei Emcke, nachdem sie „das erste Mal“, „das zweite, das dritte Mal“ mit einer Frau geschlafen habe:
Wenn es Männer wie Bernd Ulrich gibt, Männer wie der an meiner Seite, für die es selbstverständlich zu sein scheint, dass das eigene Begehren erst durch die Lust der begehrten Person entflammt, darf ich vielleicht beginnen, meine Lust, mein Begehren aus dem Schneckenhaus hervorkriechen zu lassen, in das sie sich verkrochen haben. Sex war immer sehr lustvoll für mich, wenn ich erst einmal zärtlich berührt und in Stimmung gebracht wurde. Aber es schien mir selbstverständlich und eine uns Frauen eigentümliche Besonderheit zu sein, von einem Mann erst gereizt und verführt werden zu müssen, um eigene Lust zu entwickeln. Etwas wie ein Verbot schwebte immer über der Entfesselung der eigenen Lust. Die sich frei entfaltende Lust war immer ein Privileg der Männer – und eine Quelle unkalkulierbarer Gefahren für Frauen. Anständig und legitim konnte meine Lust nur sein, wenn ich sie nicht selbst zu verantworten hatte. Mit Carolin Emcke entdecke ich vielleicht nun mein eigenes Begehren, lustvoll, erregend, verboten, rückhaltlos und verletzbar.
Als ich Gisèle Pelicot gestern im Fernsehen sah, fragte ich mich, ob sie jemals wieder Sex haben wird, jemals wieder oder allererst erfüllenden Sex. So, wie mir ihre Vergewaltiger ein fremdes Universum bleiben, wird es mir kaum jemals gelingen, mich emotional und geistig in Gisèle Pelicots Situation hineinzuversetzen. Ich kann ihr nur für ihre beherzte wie kalkulierte Tat danken. Nachdem #metoo beinahe verblasst ist, wird hoffentlich ein neues Hashtag den antipatriarchalen Diskurs befeuern.
„Der kultivierte Narzissmus im Gros der derzeit auf den Markt geschwemmten autofiktionalen Texte ist das Pfeifen im Walde derjenigen, die glauben, an sich selbst und der eigenen, subjektiv und phantasierend überhöhten Geschichte Halt zu finden in den Fluten diskursiver Kollektivierung. Sogar noch dann, wenn der literarisierende Blick auf gesellschaftliche Missstände, auf die Verlierer und die Unterdrückten gerichtet wird. Der naive Glaube an die Verlässlichkeit und Authentizität der eigenen (und vor allem der eigenen) Subjektivität in der literarischen Selbstbespiegelung und der Spiegelung der Welt im Selbst ähnelt dem Geniekult vergangener Zeiten. Nur waren die Genies damals die anderen, es war eine ehrerbietige Zuschreibung der Gewöhnlichen an die Besonderen, heute geht dieser Zuschreibung durch andere die Selbstzuschreibung der Autor*in voraus, die mit ihrem autofiktionalen Text behauptet, als eine der wenigen hielte sie den Kopf über den Sturzwellen der herrschenden Diskurse. Dabei schreibt sie, die Autorin, schreibt er, der Autor, schreiben sie, die Autoren im autopoietischen Kollektiv den source code für die katastrophische Dynamik der Fluten, denen sie atemlos zu trotzen vermeinen.“
Nina hat seit ein paar Monaten eine neue Freundin. Sie hat Leyla beim Pilates-Mann neben Edeka kennengelernt. Und weil Nina ein grundehrlicher Mensch ist, hat sie nach allerlei Schwärmereien mit einem Augenzwinkern gestanden, sie habe sich in Leyla geradezu fast ein wenig verliebt. Wenn Nina Sätze sagt, in denen ein Tatbestand mehrfach relativiert wird, deutet das in der Regel darauf hin, dass die Sache ernster als geschildert ist. „Geradezu fast ein wenig“ lässt sich demnach in einem Wort wie „heftig“ oder „extrem“ zusammenfassen. Ich bin nicht eifersüchtig, wenn meine Frau sich in eine Frau verliebt. Im Gegenteil, es facht meine Fantasie an, oder besser: Es bläst reinen Sauerstoff in die rote Glut meiner erotischen Spiegelwelt. Ich bin mir sicher, dass Nina nichts „Körperliches“ mit Leyla teilt, und doch scheint Nina in letzter Zeit mich betreffende Intimitäten eher zu meiden, sie hat sogar angefangen, sich im Bad einzuschließen, wenn sie sich wäscht. Okay, sie hat sich EINMAL eingeschlossen. Aber ich erinnere mich an mehrere Gespräche und Situationen, in denen sie behauptet hat, ich würde Sex überbewerten. Ich finde hingegen, dass Sex gar nicht hoch genug bewertet werden kann. Ginge es nach mir, sollte Sex neben Ballspielen, Leichtathletik oder Wintersport zu einer der wesentlichen olympischen Sparten erkoren werden, innerhalb derer sich die vielfältigsten Disziplinen etablieren ließen, von weit, hoch, tief über lang, schnell, langsam bis hin zu elegant, artistisch und gelenkig – nicht zu vergessen die Mehrkampf-Disziplinen in Anlehnung an den Triathlon oder die diversen Teamsportarten. Nein, Sex ist kein Sport, aber angesichts der emotionalen Aufladung der weltumspannenden Spiele ist Sex dann eben doch das Höchste der Gefühle und würde weit höhere Einschaltquoten bringen als die Turnerinnen, Tischtennis oder Tanzmäuse auf Kunsteis zusammen.
Nun hat sich Nina zwei Wochen der Urlaubszeit, die wir gewöhnlich gemeinsam verbringen, für eine Reise mit Leyla reserviert. Ich muss ob der überraschenden Nachricht wohl recht bedröppelt dreingeschaut haben, jedenfalls meinte Nina mich mit dem Angebot trösten zu können, ich dürfe mich zum Ausgleich zwei Wochen ungehemmt mit meiner Porno-Sammlung beschäftigen. „Scherz!“
Scherz? Ich war tief ins Mark getroffen. Aber warum eigentlich? Weil sie unvermittelt das Thema Sex im Zusammenhang mit ihrer Reise erwähnt hatte? Das ungefähr war der Beginn unseres Disputs über die Frage, von welcher Art die Menschheit wäre, wenn es keinerlei sexuelle Anziehung zwischen uns Menschen gäbe. Wenn es sie ganz plötzlich – vielleicht wegen eines Virus – nicht mehr gäbe. Und in diesem Disput kommt fast zum Schluss sogar auch Leyla zu Wort. Ich muss sagen, es sind rettende Worte gewesen.
„Du blickst drein, als hätte ich dir gerade den bevorstehenden Weltuntergang verkündet. Du wirst die zwei Wochen auch ohne mich überleben. Und stell Dir vor: Du wirst dir jeden Tag so viele Eier braten dürfen, wie du willst. Und Steaks und Bratwürste, halbe Hähnchen vom Hähnchen-Mann.“ Aber es ist Sommer. Und im Sommer trägt Nina diese leichten, kurzen Kleider und Röcke. Wenn Sie sich lesend im Liegestuhl rekelt, kann ich mich an dem Anblick ihrer Beine, der Unterhose und dem schönen Haargekräusel ergötzen, das an den Seiten des Slips hervorlugt. Das ist wie ein Versprechen des ewigen Paradieses. Manchmal frage ich mich, ob lesbische Frauen dieses vermeintlich nur Männern eignende Gefühl teilen, oder zumindest nachvollziehen können. Werden Lesben vom Blick auf Vulven bzw. auf von Slips notdürftig bedeckte Vulven sexuell erregt? Ganz so wie ich? Wäre ich so hemmungslos, wie ich mir manchmal wünsche, hätte ich bereits mehrere Strafverfahren am Hals, weil ich Frauen unter ihre Röcke fotografiert hätte. Ich bin kurz davor, als Bedingung für Ninas Reise einen Deal zu vereinbaren, nach dem ich alle die mir entgehenden Blicke auf und zwischen ihre Beine vorab fotografisch festhalten darf, und zwar mit und ohne Slip – als Nina fragt, ob ich irgendwas Interessantes zwischen ihren Beinen gefunden hätte.
„Ich nehme intensiv Abschied.“
„Es ist Ende Mai. Wir werden erst Mitte Juli fahren. Außerdem haben wir zwei beide bald danach unsere zwei Wochen im Trentino. Da können wir kompensieren, was uns zuvor an Intimität entgangen ist, sofern du nicht beabsichtigst, täglich zwölf Stunden auf Bärenjagd zu gehen.“
„Ihr werdet an FKK-Stränden liegen, ein französisches Bett im Hotelzimmer teilen, Leyla wird dich spätestens nach drei Tagen und Nächten erfolgreich animiert haben, Details unseres kaum noch stattfindenden Sexlebens auszuplaudern, vor allem die Highlights der Lächerlichkeit. Apropos animieren…“
„Mein lieber Pjotr, vielleicht bist du ja geistig ein wenig umnachtet gewesen, aber gestern Abend erst haben wir miteinander geschlafen.“
„Schon, aber du schienst die Sache so schnell wie möglich hinter dich bringen zu wollen.“
„Du verwechselst Leidenschaft mit Eile. Bist du eifersüchtig? Auf Leyla? Das ist ja mal eine ganz neue und überraschende Regung. Da wird es mir ein noch viel größeres Vergnügen sein, Leyla im gemeinsamen französischen Bett zu vernaschen. Mal ganz im Ernst: Leyla ist eine Freundin, ich verbringe gern Zeit mit ihr, wir haben tolle Gespräche, andere Gespräche als die, die ich mit dir habe. Und falls es so etwas wirklich geben sollte: Frauengespräche. Aber auch Politik, Gesellschaft, Feminismus. Leyla ist eine der überzeugendsten Feministinnen, die ich kenne. Ich meine: die ich persönlich kenne. Und es geht uns nicht im Mindesten um Sex. Überhaupt: Sex wird überbewertet, insbesondere von Männern.“
Da haben wir es! Das Leitmotiv unserer Beziehung. Ich möchte fast sagen: Leidmotiv. Meine Meinung dazu: Sex wird massiv unterbewertet. In dem Film Perfect Sense raubt eine Epidemie den Menschen einen Sinn nach dem anderen, angefangen mit dem Geruchssinn, über den Geschmackssinn bis hin zu Gehör und Augenlicht. Nun, es geht darum zu zeigen, was im Leben wirklich wichtig ist, nämlich die Liebe, die auch dann noch weiter existiert, wenn alle Sinne verloren gingen. Ein irgendwie rührender, romantischer Film. Das Menschengeschlecht geht unter, aber die Liebe bleibt. Jedenfalls bis zu dem Moment, wo wirklich Schluss ist. Interessanter – übrigens auch aus einer soziologischen Perspektive – fände ich das Szenario eines epidemischen Libidoverlustes. Keine körperliche, erotische, sexuelle Anziehung zwischen den Menschen mehr. Meine These (Nina würde das Wort Prämisse bevorzugen): Auch Gefühle der Sympathie sind unterschwellig erotische Regungen. Auch Mythen von der Art, man fühle sich zu einem Menschen wegen seines Intellektes und Witzes (im Sinne von Esprit) hingezogen, lasse ich nicht gelten. Geht es um Geist und Intellekt, kann es niemand mit einer guten philosophischen Abhandlung aufnehmen. Wenn Nina behauptet, einen Kerl wegen seines Intellekts anziehend zu finden und sie angeblich nichts weiter will, als ein anregendes Gespräch mit ihm zu führen, dann verdrängt sie nur den Gedanken – oder besser: das Gefühl –, der intellektuell gelesene Schönling wäre vermutlich fast ein wenig auch ein einigermaßen akzeptabler Liebhaber im Bett, oder kurz gesagt: ein mega-geiler Hengst.
„Meine liebe Ninotschka: Beste Freundin, gute Gespräche und Feminismus schön und gut, aber es wäre unwahrhaftig zu behaupten, sexuelle Anziehung spiele bei einer intensiven Freundschaft keine Rolle.“ Ich zitiere noch schnell Sartre und werfe den Begriff der mauvaise foi in den Raum, um Nina angemessen philosophisch herauszufordern, respektive zu reizen. Der Schuss geht allerdings – wie so oft – nach hinten los.
„Du und Ralf? Es gelingt dir immer wieder, mich zu überraschen.“
„Ich habe meine Worte mit Bedacht gewählt und sprach von intensiven Freundschaften. Ralf ist im engeren Sinn kein Freund. Es geht um Bier, Verbrennermotoren und Fußball. Und weil ich genau genommen wenig Interesse an Verbrennermotoren und Fußball habe, könnte ich meine Beziehung zu Ralf mit Fug auch als eine caritative bezeichnen. Mitleid eben.“
„Das heißt, im Zweifel würdest du ihm aus Mitleid auch den Schwanz lutschen. Ey, Alex, Alter, heute ma‘ kein Fußball, lass ma‘ Eier schaukeln und Schwanz lutschen.“
Den Punkt lasse ich Nina. Ausgeprägter Altruismus ist Teil meiner Lebensphilosophie. Stimmt schon, theoretisch müsste ich mich aufopfern. Letztlich bilde ich mir sogar ein, unter die hundert auserlesensten Schwanzlutscher der westlichen Welt zu gehören, käme es drauf an. Käme es drauf an, würde ich auch lebende Nacktschnecken verspeisen, langhaarige Vogelspinnen über meinen nackten Leib krauchen lassen oder die Füße meines Vaters waschen. Es kam aber noch nie drauf an und ich lasse es eher nicht darauf ankommen.
„Du meinst im Ernst, ich hätte es mehr auf Leylas Körper als auf ihren Intellekt abgesehen.“
„Lass es mich präziser fassen: beides! Intellekt ja, aber körperliche Anziehung im Besonderen. Intellekt als schönes Beiwerk und vor allem mit bildungsbürgerlichen Idealen kompatible Legitimation einer engen Beziehung, aus der alles Körperliche zugleich wieder in Intellektuelles, Sprachlich-Geistiges substituiert wird, also tragischerweise derjenige Prozess, den Freud als Sublimation sexuellen Begehrens und Genese bürgerlicher Kultur beschrieben hat.“ Ich bin ein wenig euphorisch ob der Tatsache, dass ich diesen langen Satz quasi fehlerfrei zu einem hochtrabenden Ende gebracht habe. Ich atme einmal tief ein und einmal tief aus, um den Moment zu genießen, bevor Nina mein hübsches Gedankengebäude mit Feuer, Flamme und schweren Eisenkugeln aus ehernen Kanonenrohren ruiniert und niederbrennt – Generalin und Soldatin in einem.
„Als Tragödie würde ich eher den philosophischen Unfall bezeichnen, den du gerade recht leichtfertig provoziert hast. Mal ganz abgesehen von dem Vorwurf der Unwahrhaftigkeit, der mauvaise foi, den ich allenfalls retour schicken könnte, wenn ich mich auch nur ansatzweise gerechtfertigt davon angegriffen fühlen würde. Angenommen, es stimmt, dass gemäß deiner Definition alle Kultur und alles Geistige lediglich Sublimation sexueller Regungen wäre – welche Konsequenz willst du daraus ziehen? Remigration des Geistes ins Atlantis der ewigen Kopulation und genitalen Stimulation? Und was ist mit den übrigen urwüchsigen Bedürfnissen, die der Mensch mit den Tieren teilt? Essen, trinken, schlafen? Besitz, Macht, Streit, Neid, Kampf … Führe alle diese Regungen mal in einer fröhlichen Wissenschaft argumentativ auf den Fortpflanzungstrieb zurück.“
Nina lacht mich aus und ich gebe mich geschlagen. „Gut. Aber für dich würde das im Umkehrschluss heißen, ein epidemischer Libidoverlust würde im Wesentlichen nichts verändern.“
„Ein Eunuchen-Staat? So manchen Frauen käme das sicher gelegen. Und nein: Es würde sich nicht viel ändern. Vielleicht wäre es ein wenig friedlicher auf der Welt. Wir müssten vermutlich nicht einmal das Aussterben der Menschheit befürchten, manche Vernunftgründe würden für die künstliche Befruchtung sprechen. Und ist denn der Kinderwunsch auch ein sublimierter sexueller?“
„Wären die Beziehungen zwischen den Menschen ohne die unbewussten erotischen Implikationen nicht viel kälter?“
„Kälter als jetzt schon?“
Es klingelt. Nina öffnet die Wohnungstür. Herzliche Umarmung. Leyla tätschelt zur Begrüßung meine Glatze.
„Sag mal, Leyla“, hebt Nina unvermittelt an zu sprechen, „wir reden gerade über Freundschaft und Sex – verbindest du mit unserer Reise den Hintergedanken, wir beide könnten Sex miteinander haben? Entschuldige bitte diese direkte Frage, aber Pjotr ist fest davon überzeugt, dass wir ziemlich geil aufeinander sind und in unserem französischen Bett nicht die Hände voneinander lassen können.“
Leyla blickt mich eine Weile prüfend an, während ich errötend immer tiefer in meinen Sessel sinke. Aber ich kann nicht anders, als Ninas Mut zur radikalen Volte zu bewundern. Das zeichnet eine geniale Kriegsstrategin der Psychologie aus.
„Klar will ich Sex mit dir!“ Leyla lächelt Nina herausfordernd an. “Ich fände es sehr aufregend. Wirklich! Ob im französischen Bett, im Darkroom oder in der letzten U-Bahn. Ich gehe allerdings davon aus, dass es ein sehr einseitiges Interesse ist. Macht aber nix. Jedes Wort, das wir wechseln, verursacht ein angenehmes erotisches Knistern in meinem Hinterstübchen. Schwimmen Freundschaft und Liebe nicht immer auf den Wellen sexueller Anziehung?“
Innerlich triumphiere ich. Nina hat sich eine weibliche Version ihres Aleksander aus dem unendlichen Meer menschlicher Exemplare gefischt. Andererseits könnte Ninas und Leylas Reise nun ganz anders verlaufen als geplant. Sollte ich mir Sorgen machen? Will ich mir überhaupt Sorgen machen? Im Gegenteil! Möge der Wellengang gefährliche Höhen erreichen!
„Scherz!“ Leyla und Nina lachen laut. „Mit deinen kranken Männerfantasien solltest du mal einen Arzt aufsuchen.“
Ich bemühe mich, mein flachstes Lächeln aufzusetzen. Ich bin mir absolut sicher: Das ist ein schlechtes Ablenkungsmanöver von Leyla gewesen, die es sich mit Nina nicht schon vor Antritt der Reise verderben will. Mauvaise foi, Sublimation, Substitution, Leugnung, Gaslighting: alles Anzeichen dafür, dass ich mit meiner Theorie richtig liege.
Ich wünschte, sage ich zu Nina, das Leben wäre spielerischer. Ich wünsche mir Freunde, mit denen ich spielerisch Gedanken austauschen kann.
„Du verstehst, was ich meine: Du äußerst einen Gedanken, entwirfst eine Argumentation und kannst dir sicher sein, der Freund oder die Freundin ist sich darüber im Klaren, dass du einen Gedankengang erprobst, um ihn im nächsten Moment vielleicht wieder zu verwerfen. Mit anderen Worten: Du musst nicht befürchten, dass dieser Freund nach irgendwelchen Subtexten in deinen Äußerungen sucht, nach versteckten Absichten. Im Gegenteil lässt er sich seinerseits spielerisch darauf ein, knüpft daran an und weiß, dass auch ich nicht nach irgendwelchen Subtexten forsche. Und diese verbindende Kraft, die durch die Lust an der Übertreibung entsteht, dieses in Ironie gebettete Einverständnis, dass es nur ein Spiel ist.“
„Das ist mir zu abstrakt“, meint Nina dazu. „Ich kann nicht verhehlen, dass auch bei mir sofort die Subtextsuche eingesetzt hat. Was will mein Gatte mir zu früher Frühstücksstunde mal wieder aufs Brot schmieren?“
„Du kennst diese Angst, manchmal auch nur die Vorsicht, wenn du mit anderen Menschen sprichst, dass sie deinen Worten allzu großes Gewicht beilegen könnten, wenn du versuchst, dich einmal aus dem Geflecht aus gegenseitigen Erwartungserwartungen zu lösen. Ich frage mich immer, was ich wie sagen kann und darf, ohne jemandem zu nahe zu treten, ohne Tabus zu brechen, die ich bei meinem Gegenüber vermute. Mal ganz abgesehen von Fragen der political correctness.“
„Mach mal ein Beispiel, dann muss ich nicht diese großen Lücken mit meinen eigenen Erwartungen dessen füllen, was du vermutlich meinst, aber nicht klar auszusprechen wagst.“
„Alexandra und Stefan, ein auf den ersten Blick glückliches und harmonisches Paar. Freunde im üblichen Sinne, im Prinzip gute Gespräche, politische Themen, manchmal Berufliches, oft Kulturelles. Ich habe trotzdem immer das Gefühl, dass wir und sie in gleichem Maße uns halbbewusst gegenseitig beobachten. Mit unserem feinen Sensorium registrieren wir Reaktionen und Antworten, um die Grenzen dessen, was wir sagen und besprechen können, zu erkunden. Zum Beispiel habe ich manches Mal bemerkt, dass Alexandra sehr still wird, wenn Stefan übers Golfen spricht. Sie hat dann diesen bitteren Zug um den Mund und dreht an ihrem Ehering. Einmal sagte sie ohne jede Ironie und ohne aufzublicken, er lasse ja kein Handicap aus, worauf er sie ziemlich barsch korrigierte, sie habe offenbar noch immer nicht begriffen, was ein Handicap beim Golfen bedeute. Und sie: Ja, mag ja sein, ist ja vielleicht auch nur mein Handicap. Ich weiß, ich interpretiere da vielleicht zu viel hinein. Meiner Meinung nach hat Alexandra für sich das Wort Handicap mit Gelegenheit übersetzt, also sie meinte, er lasse keine Gelegenheit aus. Welche Gelegenheit, bitte? Gelegenheit, was zu tun? Es ist sein Hobby, sie ist ein paar Mal mitgegangen, hat es dann aber wieder sein lassen. Mit wem trifft er sich auf dem Golfplatz? Woher sein Ehrgeiz, der ihn mehrmals die Woche dorthin treibt, obwohl er grinsend bekennt, regelmäßig Schlusslicht zu sein. Hier kommt dann vermutlich der Begriff des Handicaps ins Spiel.“
„Worauf willst du hinaus?“
„Ich glaube, Alexandra ist eifersüchtig.“
„Auf sein Hobby? Oder meinst du, er hat da was mit jemandem am Laufen?“
„Jedenfalls befürchtet Alexandra das. Oder sie hat sogar gute Gründe für die Annahme. Oder dass Stefan zumindest mit diesem Gedanken spielt, sich verknallt hat.“
„Und du findest, das geht dich irgendwas an.“
„Nein. Ich halte mich zurück. Aber in meinem Kopf rotieren dann doch diese Gedanken. Ich käme wirklich nicht auf die Idee, Stefan zu fragen, ob sein Interesse am Golfen eher etwas mit den Leuten zu tun hat, die er dort trifft, oder mit einer bestimmten Person. Weil ich weiß, dass er das abstreiten würde. Und weil dann die Gefahr bestünde, dass Alexandra vermuten würde, ich wüsste mehr als sie, was sie in ihrer – vielleicht unbegründeten – Eifersucht nur weiter bestärken würde.“
„Mir ist das nicht aufgefallen. Das mit dem Handicap hat sie so gesagt?“
„Und er machte den Eindruck, als wüsste er, worauf sie anspielt, als hätten sie darüber schon häufiger gesprochen.“
„Dann komm jetzt mal auf den Punkt. Worauf willst du hinaus?“
„Dass wir da, wo es interessant wird, eine imaginäre Grenze ziehen.“
„Obwohl du am liebsten diese Grenze verletzen und das große Drama in Gang setzen würdest.“
„Ich will niemandem wehtun. Deswegen halte ich mich zurück. Weil ich weiß, dass Stefan und Alexandra keinen Sinn fürs Spielen haben. Es wäre so schön, wenn ich fragen dürfte, was Alexandra tun würde, wenn sich Stefan beim Golfen verlieben würde. Oder wie sich Stefan verhalten würde, wenn er sich eingestehen müsste, dass er sich verliebt hat. Ich stelle mir vor, dass Alexandra sagen würde, dann hätten sie ein Problem. Und ich: welches Problem eigentlich? Und sie daraufhin: Ich frage mich schon länger, ob es das Golfen ist, das dich drei Mal die Woche zum Golfplatz treibt.“ Erste Stufe der Eskalation.
„Willst du das?“
„Nein. Aber wenn wir unser Leben in viel größerem Maße als Spiel begreifen könnten, bliebe diese Art von Eskalation möglicherweise aus. Spiel statt Streit und gegenseitige Erniedrigungen.“
Nina schaut mich mit großen Augen an. Und ich spinne mir einen möglichen Verlauf des Gesprächs zurecht, das wir zu viert als Spielende führen würden.
Stefan: Wenn ich mich verlieben würde, wäre ich hin- und hergerissen zwischen diesem überwältigenden Gefühl und meinem schlechten Gewissen Alex gegenüber. Ich würde Alex vermutlich sehr verletzen, wenn ich ihr von meinem Verliebtsein erzählen würde. Bei genauerem Überlegen ergeben sich mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen. Rein spekulativ.
Alexandra: Am einfachsten wäre es, die Sache zu verschweigen, weil du entweder erwartest, dass diese Gefühle wieder vergehen, oder du nicht damit aufhören willst, dich in Träumereien zu aalen, wie es wäre, dein Leben mit einer anderen Partnerin fortzusetzen. Die Idealisierung dieser anderen Frau würde so manche Defizite offenlegen, die dir an mir zuvor nicht in dieser Deutlichkeit bewusst geworden sind. Ich würde merken, wie du dich immer mehr distanzierst. Ab einem bestimmten Punkt fände ich es fair, wenn du mir davon erzählen würdest.
Ich: Eine andere Frage betrifft, wie ich finde, die materiellen Bedingungen, die die Gedanken an eine Trennung aufwerfen würden. Wohlstandseinbußen, die Folgen für die beiden Kinder, die noch zur Schule gehen, die liebgewonnenen Gewohnheiten. Eine weitere Frage ist die nach der Liebe, die man für den Ehepartner noch empfindet. Kann man zwei Menschen zugleich lieben? Wie ist es mit dem Begehren? Wie ist das bei euch beiden? Würdet ihr sagen, ihr begehrt euch gegenseitig in gleichem Maße? Und immer noch wie zu den besten Zeiten?
Nina: Also bei uns gibt es da schon deutliche Unterschiede. Das Interesse an Sex ist bei Al deutlich ausgeprägter als bei mir. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Grund für ihn sein könnte, seine Lust auch mal woanders zu befriedigen.
Ich: Sicher nicht. Glaub ich jedenfalls. Es hat diese Situation einfach noch nicht gegeben. Kenne ich mich wirklich so gut, es kategorisch auszuschließen?
Nina: Unter bestimmten Bedingungen traue ich es dir zu. Das wirft unter anderem die Frage auf, ob Al mich im Besonderen begehrt, oder ob sich sein Begehren auf beliebige Frauen bezieht, nur dass ich gerade in der Nähe und verfügbar bin. Oder mich verfügbar mache. Ich glaube, Letzteres trifft eher zu.
Ich: Die Trennung von Liebe und Sex, eine Fähigkeit, die man ja vor allem Männern unterstellt. Ich glaube, dass Frauen das genauso gut können wie Männer. Sie haben das Tabu jedoch aus kulturellen Gründen tief verinnerlicht. Frau lässt diesen Gedanken, oder auch dieses Gefühl, eher nicht zu.
Alexandra: Ist das so? Kannst du das trennen?
Ich: Und du? Schon mal drüber nachgedacht?
Stefan: Ich könnte das trennen. Meine Befürchtung wäre allerdings, wenn ich mich auf eine außereheliche Beziehung einließe, dass die entsprechende Partnerin emotional viel stärker involviert wäre. Das schreckt ab, wenn du keine neue Partnerschaft eingehen willst. Weil ich weiß, dass Frauen das eher nicht trennen können. Da ist die emotionale Beziehung sozusagen die Voraussetzung für Sex.
Nina: Warum überhaupt Liebe und Sex trennen? Noch einmal die Frage: Kann man mehrere Menschen gleichzeitig lieben und begehren? Mal ganz abgesehen von den logistischen Problemen und den Problemen, über die ich noch nicht nachgedacht habe. Zwei Beziehungen gleichzeitig führen? Das wäre mir zu kompliziert.
Ich: Wären wir gegen derlei Gedanken und Empfindungen nicht durch unsere kulturellen Prägungen gewissermaßen geimpft, könnte das vielleicht sogar …
Nina unterbricht mich in meinem improvisierten Rollenspiel. „Und du meinst, angesichts deines kleinen Komödiantenstadls sollte ich deiner Meinung nach keine Subtexte hören, wenn ich eine geeignete Spielkameradin für dich sein wollte?“
„Wenn du dazu in der Lage wärst; wenn du akzeptieren könntest, dass in unseren Köpfen schlichtweg alles denkbar ist. Dass es möglich ist, alles Denkbare zu durchdenken und alles Fühlbare zu – sagen wir mal – durchfühlen. Ich weiß, dir geht es gegen den Strich, dass ich wieder mal mein Lieblingsthema durchgespielt habe. Aber genauso gut könnten wir auch darüber sprechen, wie wir deine Mutter ermorden würden, wenn wir dafür einen Grund sähen. Mir fällt zwar gerade keiner ein, aber man könnte auch spielerisch darüber nachdenken, welche Gründe es geben könnte, deine Mutter aus dem Weg zu räumen. Doch! Gerade fällt mir sogar ein Grund ein.“
„Mir würde eher ein Grund einfallen, warum deine Mutter…“
„Siehst du, auf einmal kannst du dich auf das Spiel einlassen. Ich weiß sogar, dass du dir ganz besonders fiese und geschmacklose Mordmethoden für meine Mutter ausdenken könntest. Das liegt daran, dass wir beide sicher sein können, dass wir das sowieso nie machen würden. Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering. Reden wir jedoch über Sex, Beziehungen, Liebe, Freundschaft, denken wir über Themen nach, die einen deutlich höheren Bezug zu wahrscheinlichen Handlungen, Gefühlen und Entwicklungen aufweisen. Es macht eben einen Unterschied, ob ich dich frage, wie du deinen Chef ermorden, oder wie du ihn verführen würdest. Ermorden? – ein Scherz. Vergiften, überfahren, im Klo ertränken. Verführen? – oh Gott, never! Das Dementi und die Verweigerung des Spiels sind ein Indiz für die unterstellte Wahrscheinlichkeit. Würdest du mir also ungerührt die detaillierte Story der Verführung deines Chefs auftischen, müsstest du befürchten, ich glaube, du hättest das Szenario schon häufiger durchgespielt und habest sogar ein hinlänglich großes Interesse daran, es zu tun. Aber weil ich das aus irgendeinem Grund nicht glauben soll, sagst du, es käme dir überhaupt nicht in den Sinn irgendjemanden zu verführen. Stattdessen nimmst du an, ich wollte dich animieren, über den Seitensprung nachzudenken, damit ich ausloten kann, wie du prinzipiell darüber denkst und welche Chancen für mich bestehen, dass du meinen eigenen Seitensprung eventuell tolerieren würdest. Das Ergebnis ist Schweigen oder Streit. Das Spiel jedoch würde uns ermöglichen, uns gegenseitig noch besser kennenzulernen, es würde unser kreatives Denken schulen und darüber hinaus auch noch aufeinander geil machen.“
„Und wo würde das Spiel aufhören? Woher soll ich wissen, wann du spielen willst und wann du es ernst meinst?“
„Hört sich einfacher an, als es vermutlich ist. Ich würde dich fragen, wie du deinen Chef verführen würdest, wenn du es wolltest. Und du antwortest: Ich will meinen Chef verführen, ich weiß nur nicht, wie ich es anfangen soll. Ich will, ich möchte, ich habe vor, ich denke darüber nach, wie… Dann wird die Sache ernst.“
„Das wäre eine harte Schule. Ich habe selten von dir gehört, was du willst oder möchtest, insbesondere, was du von mir willst. Meist kommt das nur in Andeutungen, ich soll es erraten, du spielst über Bande, um notfalls später sagen zu können, das habest du nicht beabsichtigt oder gemeint. Sei ehrlich, gib’s zu!“
„Unsere gemeinsame private Kultur ist defensiv, sozial verträglich. Wir möchten einander nicht mit Forderungen bedrängen. Wir wissen, dass wir nur allzu gern einander unsere Wünsche erfüllen, selbst wenn es uns eigentlich widerstrebt.“
„Deshalb findest du so großen Gefallen an dem, was du Spiel nennst. Du stellst zwar keine Forderungen, aber kannst wenigstens alle deine Wünsche ins Gespräch – respektive Spiel – bringen und meine Toleranz testen. Ich finde, du solltest, wenn dir, wie so oft, ein Wirbelwind durch den Kopf fegt, offen und direkt aussprechen, was du willst, möchtest, bevorzugst, wünschst. Dann kann ich, wenn es mich betrifft, entscheiden, wie ich damit umgehe und ob ich darauf eingehe. Nur so würdest du offensiv meine Freiheit respektieren.“
„Und an dem freien Spiel hättest du keine Freude?“
„Du wünschst dir, dass ich mit dir spiele. Gerne! Aber jetzt mal Nägel mit Köpfen: Was wünschst du dir konkret? Wo lassen dich deine Erwartungserwartungen verstummen?“
Wieder einmal ist es Nina gelungen, den Spieß umzudrehen und mich mit meinen eigenen Waffen zu schlagen. Ja, würde ich sagen, wenn ich mich traute, ich wünsche mir, dass du mir hin und wieder mit brutaler Schamlosigkeit begegnest, dass du mir am Morgen unvermittelt unter mein Nachthemd greifst und Spaß daran entwickelst, spontan meine Lust zu entfachen. Ich wünsche mir, dass du dich unvermittelt ausziehst, dich mit gespreizten Beinen aufs Sofa pflanzt und mich zuschauen lässt, wie du dich selbst in Stimmung bringst. Ich wünsche mir, dass du dich in meiner Gegenwart selbst berührst und stimulierst, wenn dir danach ist. Ich wünsche mir, dass dir viel häufiger danach ist. Ich wünsche mir, dass du bei unserem nächsten Waldspaziergang unter einem kurzen Rock kein Höschen trägst, dich im Dickicht an einen Baum lehnst und mich an deiner Muschi…
„Woran denkst du gerade, mein lieber Pjotr? Wovon träumst du?“
„Ich denke gerade daran, wie sehr ich dich liebe.“
Al hat einen Geistesblitz gehabt. Wieder einmal! Er meint, Sex sei seine Religion.
Der Gedanke ist ihm bei einem Gespräch über die katholische Kirche gekommen und die Besonderheiten – oder wie er sagte: Sonderbarkeiten – katholisch geprägter Gemüter, womit er wohl vor allem mich meinte. Ich tue ihm Unrecht. Aleksander ist ein einfühlsamer Mensch und ich kann ihm nicht absprechen, über die Jahre unseres Zusammenlebens recht fundierte Einsichten in das komplexe Konstrukt des katholischen Glaubens aus Theorie, Psychologie und Praxis gewonnen zu haben. Praxis ist das Stichwort – und der Aphorismus „Fake it till you make it“, den ich ins Spiel brachte. Es gibt einen bedeutsamen Unterschied zwischen dem outrierten Gelaber, der auf Sprache fixierten Selbsthypnose gläubiger Protestanten und den Ritualen in der katholischen Kirche. Während der Protestant sich permanent eines festen und unverbrüchlichen Glaubens zu vergegenwärtigen hat, erledigt die Katholikin ihre religiöse Hygiene mit ritualisierten Handlungen, die – selbst was den sprachlichen Anteil betrifft, bei dem die Sprechwerkzeuge trancehaft mit allen übrigen Muskelbewegungen synchronisiert werden – auf der körperlichen Schiene laufen und von da aus gewissermaßen auf den Geist überspringen und – ja, auch! – erst dadurch eine sprachlich-geistige, wenn auch vorbewusste Dimension erlangen. Die Katholikin kommt im Prinzip ohne Predigt aus, kann sich auf die Wirkung der heiligen Handlungen der Liturgie verlassen: hinknien, aufstehen, die immer gleichen Gebete meditativ mitsprechen, die TATSÄCHLICH stattfindende Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut durch den allein befugten Priester, die physische Aufnahme des Leibes Christi, realer Ablass, die faktische Befreiung von aller Schuld, sofern man sich was hat zu Schulden kommen lassen. Demgegenüber hat der Protestant trotz der Beschwörungsformeln und didaktisch überformten Predigten, deren Redundanz beinahe an weißes Rauschen heranreicht, sein Seelenheil doch ganz allein mit seinem Herrgott auszumachen, dessen beharrliches Schweigen ihn, den Protestanten, dazu veranlasst – oder verführt –, in jedes noch so kümmerliche und unbedeutende Ereignis stumme göttliche Impulse hineinzuinterpretieren.
Fake also auf beiden Seiten, entweder die vergleichsweise bequeme und geradezu verantwortungslose Hingabe ans Ritual, das idealerweise geradewegs in die religiöse Ekstase führt, oder die hermeneutisch verschnurpselte Einbildungstätigkeit, bei der – umgekehrt – die autonom zu erzeugende religiöse Ekstase die Bedingung für die erhoffte Erlösung ist, was deutlich mehr psychische Energie erfordert als die durch den katholischen Priester hervorgerufene Hypnose. Das ist durchaus vergleichbar mit der Psychotherapie: Die Autorität des durch Examina zur Ausübung heilender Handlungen befugten Therapeuten aus Fleisch und Blut repräsentiert das katholische Prinzip des Rituals, die Selbsttherapie mit Hilfe von Beratungsliteratur ist das Mittel der Wahl für protestantisch sozialisierte Beschädigte. Und irgendwie beschädigt sind wir doch alle. Offensichtlich auch mein lieber Pjotr, der seinen therapeutischen Königsweg meint in Sex und erotischen Fantasien gefunden zu haben. Das sage ich. Aleksander bestreitet, das habe etwas mit Therapie zu tun. Denn Auslöser seiner unverhofften Begeisterung ist seine Eingebung gewesen, die Fixierung auf Sex und Erotik sei im Hegel’schen Sinne ein übergeordnetes synthetisierendes Drittes zwischen Katholizismus und Protestantismus. Es fällt mir nicht leicht, seine Argumentation zu rekonstruieren. Sie beginnt mit der Frage danach, was Religion überhaupt ist und ob sie ein natürliches menschliches Bedürfnis sei.
„Du erinnerst dich an dieses Experiment“, sagt Aleksander, „bei dem Säuglinge ohne jede sprachliche Zuwendung aufwachsen mussten, um herauszufinden, ob sie aus sich heraus eine Sprache entwickeln, vielleicht sogar die Ursprache, auf die alle Sprachen zurückzuführen wären?“
„Ja“, sage ich, „das Experiment soll Kaiser Friedrich der Zweite im 13. Jahrhundert veranlasst haben. Keines der Kinder hat das überlebt.“
„Warum weißt du sowas? Also, wäre es möglich, ein Kind ohne jede Berührung mit Religion oder auch nur religiöse Fragestellungen aufwachsen zu lassen…?“
„Die Überlebenschancen wären ungleich höher.“
„Vermutlich. Die Frage ist, ob so ein Kind im Laufe seines Erwachsenwerdens das Bedürfnis nach religiösen Gefühlen entwickeln und möglicherweise sogar eine eigene Religion konstruieren würde. Oder eben nicht.“
„Deine Forschungsfrage ist deutlich unterkomplex. Zunächst einmal lässt du dabei die von Leibniz formulierte Grundfrage der Metaphysik außer Acht. Der nämlich fragte schon im frühen 18. Jahrhundert danach, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Jedem halbwegs vernünftigen Menschen muss irgendwann diese Frage im Kopf herumschwirren. Und die ist weitaus bedeutender als die egozentrische Frage: Woher komme ich, wohin gehe ich? Die Frage nach dem Woher des Universums, die Leibniz stellte und die zum Beispiel auch Heidegger wieder aufgegriffen hat, ist die Frage nach dem Ursprung von allem und damit die Frage nach einem Schöpfer. Und diese Frage ist notwendig angesichts der Kategorien von Raum und Zeit, denen unser Denken laut Kant unentrinnbar unterworfen ist, selbst wenn es möglicherweise jenseits unserer menschlichen Hirne eine andere Realität geben sollte, die nicht den Gesetzen von Raum und Zeit gehorcht.“
„Ich habe doch erst angefangen. Es wird noch ungleich komplizierter. Dein areligiös erzogenes Kind wächst in einer Gesellschaft auf, die lange vor seiner Geburt zahlreiche Ersatzreligionen erschaffen hat, die wahrscheinlich vorwiegend im Kapitalismus wurzeln, oder in irgendwelchen Ideologien, Nationalismen, patriarchalen Familienstrukturen, Normen des Zusammenlebens und des Krieges. Das Wort Religion hat seine Herkunft möglicherweise im Lateinischen und bedeutet so etwas wie Verbindung oder Rückbindung. Ein Nazi zu sein, hat durchaus auch gewisse religiöse Aspekte, jedenfalls dem Wortsinn nach.“
„Gar nicht kompliziert. Das heißt doch nur, dass Religion auch ohne Gott geht. Du spielst mir unabsichtlich in die Hände. Worum es mir geht: Sex kann an die Stelle von Religion treten. Das ist mir während unseres Gesprächs über euch Katholiken aufgegangen.“
Wahrscheinlich habe ich bei dieser Bemerkung die Augen verdreht. Aber Al zieht sich nicht beleidigt in sein Schneckenhaus zurück, sondern setzt auf einen unfairen Konter.
„Ich sage ja nicht, dass Sex für dich jemals in die Liste der 100 wichtigsten Dinge des Lebens aufsteigen könnte. Ich rede von mir.“
„Dann rede von dir.“
„Sehr undifferenziert betrachtet, bin ich in einer waschechten protestantischen Familie aufgewachsen, mein Vater ist evangelisch gewesen und meine Mutter hat sich sogar erst im jugendlichen Alter taufen lassen, um gleich darauf konfirmiert zu werden, was ein viel bewussterer, willentlicher Akt gewesen ist als bei uns nativen Protestanten. Evangelisch sein bedeutete: Gute-Nacht-Gebete vorm Schlafengehen, manchmal Tischgebete, sonntags Kindergottesdienst und bei Familientreffen ausgedehnte Gespräche über Gott und Glauben. Ich bin da voll drin gewesen. Und – hab‘ ich ja alles schon erzählt – als Jugendlicher habe ich mich zeitweise da hineingesteigert. Tut jetzt nichts zur Sache. Also grenzwertig religiöser Wahn. Aber da ist mir dann die Pubertät in die Quere gekommen, dieses geheime Wunder meines erregten, steifen Penis‘, der seinen eigenen Willen hatte und gestreichelt und gerieben werden wollte. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Orgasmus – vollkommen unaufgeklärt –, bei dem zu meiner größten Überraschung ein glasklares Fluidum bis an die gegenüberliegende Toilettenwand spritzte. Glasklar, wohlgemerkt! Also noch kurz vor meiner Geschlechtsreife. Die Erfahrung war atemberaubend und musste so oft wie möglich wiederholt werden. Allerdings in dem Bewusstsein, dass ich etwas Verbotenes tat. Das war irgendwie klar. Sex war in unserer Familie tabu, darüber wurde weder geredet, noch gingen meine Eltern mit Nacktheit offen um. Und von hier und da flogen mir Urteile zu, in denen es zum Beispiel hieß, Onanie ruiniere die Nerven oder sei vor Gott eine schwere Sünde. Glücklicherweise begleitete mich Gott nie auf meine häufigen und langdauernden Toilettengänge. Gott und meine heilige Toilettenbeschäftigung liefen seither parallel in strikt getrennten Sphären. Bis – um das abzukürzen – Nietzsche seine Hand aus dem Grab streckte und Gottes Tod erklärte. Ich muss einen Schritt zurückgehen. Vor dem Ableben Gottes entdeckte ich mein Interesse für die weibliche Scham. Und ich hatte, so scheint es mir im Rückblick, von Anfang an eine Vorstellung von der Scheide – oje, böses Wort! – als einem Lustorgan, das meinem eigenen in nichts nachstand und das irgendwann erforschen zu dürfen, mich nachhaltig faszinierte. Die anfangs fast aussichtslose Suche nach pornografischen Abbildungen wurde über die Jahre mit mäßigem und mit der Ankunft des Internetzeitalters endlich überwältigendem Erfolg belohnt. Naja, und der großartige Sex mit dir.“
„Also eine mehr oder weniger normale Entwicklung für einen männlichen Jugendlichen. Aber ich sehe da noch keinen Zusammenhang mit der Religion.“
„Kannst du auch noch nicht. Ich muss das genau erklären.“
Al muss es genau erklären – und ich muss es aus guten Gründen abkürzen. Aleksander braucht mehrere Anläufe, der Arme errötet für mindestens eine halbe Stunde, seine Hände zittern, so schamerfüllt legt er mir seine Sex-Religion auseinander. Wahrscheinlich glaubt er, ich würde ihn missverstehen, verurteilte seine männliche Sexualität oder verachtete ihn gar nach seinen ausführlichen Geständnissen, die wirklich etwas von einer Beichte haben. Und beichten muss man doch nur, was man selbst für sündhaft hält. Immer noch der schuldbewusste Protestant, noch dazu einer, der sich bei seiner katholischen Priesterin des Rituals der Beichte bedient, um Ablass für seine sündhafte Sexualität zu erhalten. Ihm sei vergeben. Möge er fortan nicht mehr sündigen. Oder sich regelmäßig zur Beichte einfinden. Statt des Bußrituals der Selbstgeißelung sechsmal hintereinander ein ‚Ave Maria‘ – oder Ave Babsy, Kitty, Lorena, Maxime und so weiter; wie die freizügigen Damen sich in den einschlägigen Clips eben nennen. Ich glaube, Aleksander hat nur meine verständige Zustimmung zu seinem ausgedehnten Pornokonsum zum Ziel gehabt, oder mich sogar auf seine Seite ziehen wollen. Mit einer protestantisch gewitzt-verschnurpselten Argumentation. Und die geht so:
Während der Protestant, der er einmal gewesen ist, sich genötigt sah, drei- bis siebenmal am Tag ein Gebet gen Himmel zu schicken, oder auch nur die Erinnerung daran aufzufrischen, dass Gott ihn mit einem Auftrag betraut hat, dessen Inhalt ihm freilich unbekannt blieb, Gott also im Verborgenen zu weilen pflegte, waren Sex, Lust und Erotik unmittelbar gegenwärtig und real. An die Stelle des täglichen Gebets und des Kirchgangs tritt das gepflegte Betrachten ausgesuchter Pornos, die ihm jene angenehme und sinnstiftende Erregung verschaffen, die ihn frohgemut durch den Tag trägt. Der Gott des Sexes begegnet ihm täglich und stündlich physisch auf der Straße und im Supermarkt, inkarniert in Frauen, die auf die unterschiedlichste Art schön, begehrenswert, erotisch sind. An sie heftet er in- und auswendig ausgestaltete, äußerst altruistische erotische Fantasien, in denen es um die Lust und Befriedigung dieser Frauen geht, nicht um die eigene, oder nur um die eigene Lust an der Lust. Es sind Gebete, die zur Stärkung des Glaubens gerade dadurch führen, dass die sich darin manifestierenden Fantasien und Sehnsüchte zunächst unerfüllt bleiben, vergleichbar mit dem Betrachten der Pornos, das lediglich das Ziel der erotischen Spannungssteigerung zum Ziel hat, ohne dass diese Spannung dann auch physisch abgebaut wird.
„Also nicht abspritzen?“, frage ich unverblümt.
„Nein, dann wäre die schöne Spannung ja perdu. Der Gott des Sexes ist die Sehnsucht.“
„Sehnsucht wonach genau?“
„Offen gesagt, in der Lust der Frauen das Spiegelbild der eigenen Lust zu erblicken. Und darin eine Heimat zu finden.“
Und das heilige Hochamt sei schließlich der Sex mit mir, für den die rituellen Handlungen (Pornos) und Gebete (erotische Fantasien) die erbauliche Vorbereitung darstellten. Die Tage, ja, die ganze Welt sei so in Sinn und süße Sehnsucht getaucht, sagt er, die immer wieder neu – in mir, mit mir – an ihr Ziel gelange.
Ich sollte das vielleicht romantisch finden und meine aufkeimende Eifersucht auf die vergötterten Heiligen und Engel des Internets oder die freilaufenden weiblichen Projektionsflächen beiseiteschieben. Immerhin herrscht Religionsfreiheit.
Ich muss gestehen, ich bin immer davon ausgegangen, dass für Männer der Höhepunkt beim Pornogucken naturgemäß die erlösende Ejakulation ist. Für meinen lieben Pjotr anscheinend nicht. Deshalb ist er auch so begeistert von sich selbst. Es unterscheidet ihn von seinen Mitmännern und soll ihn wohl auch von seinen Schuldgefühlen befreien. Den ganzen Tag an Sex zu denken, muss auch ihm nach wie vor moralisch zweifelhaft erscheinen. Gibt es nicht wichtigere Dinge, an die zu denken wäre? Aber nun verstehe ich auch, warum er so erpicht darauf ist, dass ich meinerseits beginne, meine erotischen Fantasien zu kultivieren, und er es am liebsten sähe, ich würde es ihm mit dem Pornokonsum gleichtun. Es scheint, niemand ist zufrieden mit seiner Religion, wenn er sich nicht einer Gemeinschaft der Rechtgläubigen sicher ist. Das Missionieren gehört zur Pflege der Religion notwendig dazu. Ich stelle mir vor, wie Aleksander bei Wind und Wetter stundenlang geduldig in der Fußgängerzone steht und Traktate seiner Sex-Religion feilbietet. Ich fürchte, die Restkatholikin in mir ist noch nicht bereit, zur Konvertitin zu werden. Dafür bedürfte es eines religiösen Erweckungserlebnisses. Missionare an der Haustüre – ob Mormonen oder Zeugen Jehovas – haben mich meist nur mit Fremdscham erfüllt. Gleichwohl: „Fake it, till you make it“?
Meine Lieben, aus meiner Sicht war unser gestriges Gespräch sehr ertragreich. Ich habe, wie versprochen, die Ergebnisse einmal zusammengefasst, kategorisiert und mit weiterführenden Fragen verbunden. Je besser wir unser gegenwärtiges Liebeskonzept (schillernd zwischen „romantischer Liebe“ und „Sexualität“) verstehen, desto besser erkennen wir Unterschiede zu Liebeskonzepten anderer Epochen. Und nicht weniger können wir umso besser verstehen, mit welchen Schwerpunkten in der Gegenwartsliteratur Liebe thematisiert wird.
Liebe Grüße André M. Kuhl
Liebeskonzepte im Deutschkurs DE2 – Kuhl Ergebnisse der ersten Stunde
1. Sexualität
Bemerkenswert war das erste Wort, das halblaut aus männlichem Mund geäußert und von einem leisen Kichern gefolgt wurde: „SEX“. Erst später wurde der Aspekt der Erotik bzw. der Sexualität (diesmal aus weiblicher Perspektive) wieder aufgegriffen, als kurz von „LUST“ die Rede war, die zweifellos zum Themenkreis der Liebe gehört. Welche Bedeutung die Sexualität für die Liebe besitzt, wurde indirekt thematisiert, wenn es um Genetik, den Vergleich mit der Tierwelt und den historischen Wandel der „Liebeskonzepte“ ging.
FRAGE: Sind, wenn man von Liebe spricht, Sexualität und sexuelle Anziehung eher Tabuthemen? Warum?
2. Das Konzept der romantischen Liebe
Im Verlauf des Gespräches verfestigte sich der Eindruck, dass unser vorherrschendes Konzept von Liebe das der „romantischen Liebe“ ist. Zwar wurde das Konzept der romantischen Liebe abgegrenzt von anderen Formen der Liebe, etwa der platonischen (nicht-sinnlichen) Liebe, der Freundesliebe, der Liebe zu Eltern und Geschwistern (auch Fetisch spielte eine Rolle), aber unterschwellig dominierte die Auffassung, wenn man von Liebe rede, gehe es um die romantische Beziehung zwischen zwei Menschen verschiedenen oder gleichen Geschlechts. Mit dem Konzept der romantischen Liebe sind verbunden: die intensiven Gefühle, die Bereitschaft füreinander zu sterben (falls nötig), Bedingungslosigkeit, Zuneigung, das Phänomen der Verliebtheit als Bedingung für eine Verbindung, Geborgenheit, Sicherheit etc. Sehr neutral wurden diese Aspekte als „psychisches Phänomen“ belegt und damit als „naturgegeben“: Sich zu verlieben, kann man nicht verhindern – selbst, wenn die Liebe unerfüllt bleibt.
FRAGE: Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Favorisierung der romantischen Liebe?
3. Liebesbeweise nach dem Vorbild kapitalistischer Tauschgeschäfte
Im Zusammenhang mit unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem scheinen viele im Kurs die Auffassung zu teilen, die Aufrechterhaltung der Liebe sei mit Arbeit und Aufwand verbunden und in gewisser Weise folgten diese Bemühungen oft dem Prinzip des Tauschgeschäftes. Das, was als Ausdruck von Liebe wahrgenommen wird, wird oft analog zu Waren mit bestimmtem Wert gesehen, deren Tausch im Beziehungsgeschäft zu einem gerechten Gleichgewicht der Werte führen muss. Liebe wird hier in einer langfristigen Beziehung angesiedelt, die nicht mehr durch das hormongesättigte Verliebtsein gestützt wird.
FRAGE: Ist das so: Wer liebt, will eine Beziehung führen? Ist die Liebesbeziehung ein Tauschgeschäft?
Aufgabe: Diskutieren Sie die drei Fragen in Gruppen und stellen Sie anschließend kurz Ihre Ergebnisse vor!
11. September 2023
Meine Lieben, das Programm für heute sieht folgendermaßen aus:
1. Lektüre der Kurzgeschichte „Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“ von Juliane Liebert ( In : Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht. Hrsg. von Lina Muzur. Berlin, 2018. S. 103 – 110.)
2. Kommentieren und bewerten Sie (schriftlich) die Kurzgeschichte in einem freien – sehr gerne auch betont unsachlichen – Text! (mindestens 400 Wörter) Das ist nicht leicht, denn die meisten von Ihnen sind mit einer so freien und unkonventionellen Textsorte nicht vertraut. Schon einen Anfang zu finden, stellt so mache/n vor ein Problem. Am besten „fallen Sie mit der Tür ins Haus“, wie man so schön sagt.
Beispiele für Textanfänge:
„Ich habe offene Enden in Kurzgeschichte schon immer gehasst. Die Autorin Juliane Liebert …“
„Nieder mit dem Patriarchat? Da helfen wahrscheinlich nur Wunder. Oder Literatur. Juliane Liebert schreibt in ihrer Kurzgeschichte …“
„Wer liest das schon? Juliane Liebert setzt als „großer, böser Spatz“ auf Provokation, vermiest mir den Nachmittag und landet doch nur als Bettvorleger in ihrer eigenen LGBTQIA+-Bubble.“
„Männer „sind das lächerlichste und erbärmlichste Geschlecht auf Erden“. Stimmt leider.“ …
3. Ihre Texte wollen wir danach zu einer vertiefenden Analyse und Interpretation nutzen. Hilfreich dafür wären FRAGEN, die Sie an den Text (bzw. die Autorin) stellen und die Sie sich gegenseitig (im Plenum) zu beantworten versuchen. (Vermutlich kommen wir dazu ausführlich aber erst am Mittwoch.)
LG AMK
13. September 2023
André M. Kuhl: Unsachlicher Kommentar zu Juliane Lieberts Kurzgeschichte „Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“
Angesichts der gegenwärtigen Kriege, insbesondere des Ukrainekrieges, mag frau sich wohl mit gehässiger Lust an dem Blütentraum der Ich-Erzählerin ergötzen: Mögen sich die Männer, die so gern Krieg spielen, sich gegenseitig in den Arsch ficken und die Frauen nicht weiter mit ihren Gelüsten, Vergewaltigungs- und Mordfantasien belästigen.
Mir selbst wären diese himmlischen Schwanzträger hingegen nicht willkommen. Weil ich homophob bin? Weil ich nicht dieses männliche Idealbild lesbischer Frauen verkörpere, nämlich schwul zu sein?
Was für ein Aufwand! Acht Seiten für eine auf eine Dreiviertelseite gedehnte Message, die kurz gefasst auch auf die Formel „fickt euch selbst“ gebracht werden kann. Ach ja! – und für den Satz: „Über allem die Frau“. Über all dem biologischen Gewimmel auf unserer lächerlichen Erdkruste die Frau. Obwohl: Klingt ganz schön nihilistisch, wenn die biologische Evolution mit Schimmelbewuchs verglichen wird.
Aber die eigentliche Geschichte, Beates Geschichte, bleibt im Verborgenen. So weit reicht die Fantasie der Autorin dann doch nicht. Als ob es reichte, dem wilden Mann mit ruhigem Blick zu begegnen, um ihn in Tränen ausbrechen zu lassen. Und Tränen – worüber eigentlich? Da wird ein kleines Wunder bemüht, das Beate zur Superwoman werden und den notgeilen Chef, den Machtmissbraucher, zur Briefmarke mutieren lässt. Anlecken, aufkleben und abschicken! Adressat unbekannt. Was ist passiert? Was stellt Beate nach ihrem Erweckungserlebnis (respektive Erkenntnisschub) mit dem Kerl an, das am Ende zur Beseitigung des Bösen qua Patriarchat führen wird? Das weiß Juliane Liebert wohl auch nicht. Enthüllt der scheinbar mutig in die männlichen Geschlechtsteile hineingegrätschte Text unterschwellig nur die Resignation der Autorin?
Jedenfalls gibt sie sich für die Bubble der LGBTQIA+-Community sehr vorbildlich: Beziehung bitte ohne Besitzansprüche! Kann man auch in der Brigitte oder im Spiegel lesen. Lieberts Punk-Feminismus verfehlt allerdings seine Zielgruppe: die Uwes dieser Welt, die bald schon wieder bereit sein werden, unliebsame Bücher zu verbrennen.
Ich muss zugeben, ich habe schon vor längerer Zeit mal Juliane Lieberts Insta-Auftritt gestalked. Warum? Weil sie gut aussieht und sich zuweilen recht freizügig zeigt. Beneidenswert so ein Journalistinnen- und Schriftstellerinnenleben! Lifestyle, Partys, Prominente. Und natürlich: keine lästigen Blagen. Und es ist keine reine Fiktion, Juliane Liebert lebt selbst mit einer Frau zusammen, glaub ich. „Hab ich nichts dagegen“ wäre das falsche Wort. An ihrer Stelle würde ich auch mit einer Frau zusammenleben wollen, sprich: Wäre ich eine Frau, dann garantiert lesbisch.
Ich kann Lieberts Sehnsucht nach einem Matriarchat gut verstehen. Es ginge der Menschheit besser. Aber das wusste ich auch schon vor der Lektüre der Kurzgeschichte. Sag mal einer, was dafür zu tun wäre!
Kommentar zum Kommentar
Der Kommentar entspricht selbstverständlich nicht wissenschaftlichen Kriterien. Zum einen fehlen Hinweise auf Textstellen und wörtliche Zitate, zum anderen ausführlichere Erläuterungen, die aufzeigen, wie ich zu meinen jeweiligen Urteilen gekommen bin. Aber in meinem Text stecken auch Übertreibungen und Unschärfen, sowie vorschnelle Urteile.
Alle meine Urteile muss ich am Text erneut überprüfen und mich dabei selbst korrigieren. Das Ziel: herausfinden, welche Intentionen die Autorin mit ihrem Text verfolgt hat. Und auch, welchen Adressatenkreis die Autorin aus welchen vermutlichen Gründen bedient hat.
Der Traum auf Seite 108 etwa zeigt keineswegs das Bild von männlichen Soldaten, die sich gegenseitig anal beglücken. Es handelt sich um eine himmlische „Armee“, die sich in diesem surrealen Bild zur Aufgabe gemacht hat, den Soldaten das zu geben, „was sie sich heimlich schon immer gewünscht“ haben. Diese Unterstellung kleidet die Autorin in einen Wunschtraum und relativiert diese damit bereits wieder. Dahinter stecken Vermutungen, die sich nicht leicht nachweisen lassen. Gibt es ein heimliches Bedürfnis von Männern, nicht bloß die Penetrierenden zu sein, sondern auch penetriert zu werden? Jedenfalls kennzeichnet dieser Traum das weitgehend biologisch determinierte Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen, das diese in Täter und „Opfer“ teilt, er kennzeichnet in der Umkehr der Verhältnisse das biologische Machtgefälle zwischen Mann und Frau – aber möglicherweise hält die Autorin auch diese vermeintliche biologische Konstante für mindestens relativierbar. Stichwort „Knabenliebe“ in der Antike (wenn allerdings auch in der griechischen Antike Sex zwischen Männern verachtet – wenn auch geduldet – wurde).
Auch die „Lücken“ in meinem Kommentar müssen eine Rolle spielen. Welche Funktion hat die Figur des homosexuellen Amir? Und aus welchem Grund legt Juliane Liebert ausgerechnet ihm diese Sätze in den Mund: „Männer sind schwach. Sie sind das lächerlichste und erbärmlichste Geschlecht auf Erden“? (S. 107)
Was ist mit den Klischees, die die Ich-Erzählerin in ihrem Beratungsgespräch (S. 106 – 107) auftischt, nicht ohne selbstkritisch darauf hinzuweisen, dass es sich um spießige Ansichten handelt („Das Wieso war ein Dartpfeil in meine spießige Visage“, S. 105): Mit dem Chef zu schlafen passt nicht zur Emanzipation der Frau (S. 105), Machtmissbrauch, Weinstein, ungewollte Schwangerschaft, verheirateter Mann, zwei Kinder (ebd.). Die Ich-Erzählerin listet eine Reihe von Gründen auf die gegen Beates Vorhaben sprechen und allesamt zum Wertekanon der Leserschaft gehören dürften. Warum lässt die Autorin ihre Erzählerin dies sagen? Und warum belässt sie die Erzählerin ahnungslos, als Beate den Satz äußert: „Es geht um die Beseitigung des Bösen“? (S. 105)
Ich habe in meinem Kommentar unterstellt, dass die Autorin selbst nicht weiß, wie diese „Beseitigung des Bösen“ vonstattengehen soll. Diese Unterstellung mag zutreffen. Ich darf jedoch nicht grundlos annehmen, dass der Autorin diese „Fehlstelle“ nicht selbst bewusst ist. Ich muss davon ausgehen, dass jedes Wort in dieser Kurzgeschichte mit Bedacht und bei vollem (kritischen) Bewusstsein gewählt wurde. Das ist das Grundgesetz der Interpretation.
In meinem Text habe ich alle meine Urteile und Deutungen farbig gekennzeichnet, die mit Hilfe von Zitaten und Erläuterungen belegt werden müssten, um wissenschaftlichen Kriterien zu entsprechen. Sieht ziemlich rot aus! Hinzu kommen die „Lücken“ (Amir. Warum will Beate mit ihrem Chef schlafen? Woran erkennt man, dass es sich bei der Ich-Erzählerin um eine Frau handelt?)
Wie Sie sehen, habe ich hier nicht alle Mängel meines Textes angesprochen. Ist es deshalb übrigens ein schlechter, mangelhafter Text? Weil ich sehr spontan auf den Text reagiert habe, kann ich nun aus dem Vollen schöpfen. Ich habe durch meine Arbeit eine Fülle an sehr subjektiven Urteilen und Interpretationsansätzen gewonnen. Nun bin ich in der Lage, jedes dieser Urteile und jeden Deutungsansatz am Text zu überprüfen, um meine rein subjektive Lesart überwinden zu können. Und ich versuche, meine Erkenntnisse vor dem Hintergrund dessen, dass die Autorin jedes Wort bewusst und absichtsvoll gewählt hat, meine Beobachtungen und korrigierten Urteile zu einer vermutlichen Aussageabsicht (Intention) der Autorin so zusammenzufassen, dass daraus ein homogenes, schlüssiges Bild entsteht. Auf diesem Ergebnis hat abschließend mein persönliches wiederum subjektives Urteil zu fußen.
Aufgaben:
1a. Bilden Sie Gruppen von fünf bis sechs Teilnehmer*innen.
1b. Wählen Sie eine Person als Gesprächsleiter*in. Ihre Aufgabe besteht darin, das Wort zu erteilen und das Gespräch zu strukturieren.
1c.Wählen Sie zudem zwei Personen, die darauf achten, dass die in den Aufgaben 2a und 2b genannten Kriterien angemessen berücksichtigt werden.
1d. Beauftragen Sie eine Person damit, sowohl die identifizierten Urteile, Deutungen und zur Sprache kommenden Gefühle zu protokollieren. Und ebenso die Ergebnisse von deren sachorientierter Überprüfung.
2a. Tragen Sie einander nacheinander Ihre Texte vor. Die Zuhörer*innen haben die Aufgabe, jeweils die in diesen Texten aufscheinenden Urteile, Deutungen und „Lücken“ aufzuzeigen. Machen Sie sich für jeden Text daran, diese Urteile, Thesen und Deutungen am Text zu überprüfen. Fragen Sie immer nach dem WARUM!
2b. Viele Ihrer Texte werden vermutlich Gefühle thematisieren, die bei der Lektüre entstanden sind. Gefühle sind gewissermaßen wichtige Vorstufen der Interpretation. Suchen Sie gemeinsam nach den Gründen für das Entstehen dieser Gefühle (und auch Assoziationen). Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Auslöser dieser Gefühle von der Konfrontation Ihres persönlichen Lebenskontextes mit den Inhalten der Kurzgeschichte herrühren. Formulieren Sie in der Gruppe, welche konkreten Auslöser das sind. Und: Überlegen Sie, ob die Autorin derartige gefühlsmäßige Widerstände bei ihren Leser*innen womöglich beabsichtigt haben könnte.
3. Fassen Sie in einem gemeinsam formulierten Statement Ihre Deutung und das damit verbundene Werturteil bezüglich der Kurzgeschichte zusammen.
Alternative: Wenn Sie glauben, Ihre eigenen Texte seien nicht ertragreich genug, können Sie sich unter gleicher Aufgabenstellung auch meinen Text vornehmen.
Und: Warum wir diese Aufgaben nicht einfach im Plenum unter meiner Leitung bearbeiten? Weil Sie dann die Verantwortung für die Ergebnisse leicht an andere (vor allem mich) abgeben können und am Ende nicht wissen, wie wir zu den Ergebnissen gekommen sind…
19. September
Guten Morgen,
nachdem sich unsere Interpretationsversuche am Montag anfangs schwierig gestalteten, zeichnete sich gegen Ende der Horizont einer Deutung ab. Ich habe das (neben unseren Aufzeichnungen aus dem Unterricht) in einer eigenen Interpretation einmal zusammengefasst. Vielleicht können wir die Beschäftigung mit Lieberts Kurzgeschichte damit abschließen.
Dann könnten wir uns als nächstes wieder mit Gedichten beschäftigen.
LG AMK
Juliane Liebert – Der Montagsbuddha… Analyse und Interpretation
Interpretationshypothesen aus dem Plenum:
A Die Autorin weckt durch ihre skandalöse und provokante Schreibweise und Ausführungen von Fantasien negative Gefühle bei Leserinnen und Lesern. (Wirkung)
B Die Autorin will auf die Missstände bezüglich sexueller Freiheiten in totalitären Staaten aufmerksam machen, bzw. diese anprangern.
Dass Amir mit Einwanderern zu tun hat und sexuell verkehrt, ist nur ein Randgeschehen. Es geht zwar um Sexualität, aber nicht im engeren Sinne um die von homosexuellen Einwanderern.
C Die Autorin lässt den Leser*innen einen großen Interpretationsspielraum. (Shafiqullah möchte nicht, dass gegendert wird.)
Hier fehlt der Textbezug. Aber es muss möglicherweise geprüft werden, ob das am Ende tatsächlich zutrifft. Z.B. wird nicht erzählt, was zwischen Beate und Uwe geschehen ist, und was danach im Treppenhaus geschieht. Hier steckt eine Aufforderung drin, die eigene Fantasie zu bemühen. Aber warum? Auch Beates Motiv, mit ihrem Chef schlafen zu wollen, bleibt unklar. Warum sind Uwes Reaktionen so gar nicht nachvollziehbar? Amirs Künste werden nicht näher erläutert. Dabei hat Amir in dem erzählten Gespräch nur sehr simple Ratschläge zu erteilen, die wenig überzeugen und sehr pauschal sind. Aus welchem Grund lässt die Autorin diese wesentlichen Punkte offen? Welche Absicht verfolgt sie damit?
D Die Autorin will mit ihrer Kurzgeschichte ihre Leserinnen verwirren. (Wirkung)
F Die Autorin kritisiert mit ihrem Text in der Gesellschaft verbreitete Stereotype.
Emotionslose, aggressive, übergriffige Männer. Männer glauben, sie seien hetero…
G Die Autorin hat eine gewisse politisch-gesellschaftliche Einstellung, die sie in ihrem bizarren Text darlegt.
H Die Autorin regt mit einem entgrenzten Multi-Kulti-Text zum Denken über unsere Rollen und Freiheiten in der Gesellschaft an.
[…]
Soweit unsere Aufzeichnungen während des Unterrichtsgesprächs. Aus dem weiteren Unterrichtsgespräch ergab sich der Horizont einer Deutung, die sich an der Tatsache festmachen lässt, dass kaum ein Detail der Kurzgeschichte im engeren Sinne realistisch erscheint. Das heißt, wir können die Autorin nicht beim Wort nehmen, sondern sind aufgefordert, den Text vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Dazu der folgende Versuch einer Interpretation:
A dream within a dream – Juliane Lieberts “Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“
Viele Leserinnen und Leser werden durch Lieberts 2018 erschienene Kurzgeschichte vermutlich in tiefe Verwirrung gestürzt. Dabei ist der Plot der Geschichte im Grunde recht überschaubar: Beate, die Lebensgefährtin der Ich-Erzählerin, hat beschlossen, ihren Chef zu verführen, sucht diesbezüglich Rat bei dem Homosexuellen Amir, dessen Weisheit als grenzenlos gilt, und setzt ihr Vorhaben schließlich um. Dramaturgisch sucht Liebert weder Umwege zum Ziel, noch stellt sie dem Vorhaben Beates nennenswerte Hindernisse in den Weg. Zwar wird Beate mit den Bedenken der Ich-Erzählerin konfrontiert, ihr Chef, Uwe, sei verheiratet und habe zwei Kinder, auch damit, das Vorhaben widerspreche den Errungenschaften der „mühsamen Emanzipation“ (S.105), es passe nicht in die heutige Zeit, setze sie männlichem Machtmissbrauch aus und habe möglicherweise zur Konsequenz, dass sie ungewollt schwanger werde (vergl. S.105), aber Eifersucht entwickelt die Ich-Erzählerin, die ihre Lebensgefährtin aufrichtig zu lieben scheint, allenfalls in homöopathischen Dosen. Und so manövriert die Autorin die Figur der Beate geradlinig zur bereits auf der dritten Seite (S. 105) schamlos gespoilerten Pointe der Geschichte.
So – beinahe – reibungslos die Geschichte selbst ihren Lauf nimmt, so steinig und aufhaltsam ist der Hindernislauf, dem sich Leserinnen und Leser aussetzen, wenn sie die Lektüre nicht schon vorzeitig abbrechen. Denn nicht nur Beates dumpfbackiges Vorhaben, auch die Figur des Amir, dessen vielgerühmte Weisheiten eigentlich nur aus sexistischen Klischees und dümmlichen Pauschalisierungen bestehen, wie etwa der, die Männer seien schwach, erbärmlich und manipulierbar (S. 107), wirkt befremdlich, sogar unrealistisch. Umso mehr, da im Text behauptet wird, Amir habe seit dem Beginn der Flüchtlingskrise mit einer Unzahl männlicher, verheirateter Araber sexuell verkehrt, die zuvor offenbar nicht ihren homosexuellen Neigungen folgen konnten. Nicht weniger unrealistisch erscheint es, dass Beate und die Ich-Erzählerin gemeinsam (sic!) Rat bei ihm suchen, der die Leserinnen und Leser ob seines Irrwitzes und seiner Abseitigkeit wohl fassungslos staunen lässt: Wer einen Mann verführen wolle, müsse mit ihm über Sex mit anderen reden (S.106), ihm selbst sei es bei einem Hetero-Mann mit diesem Trick gelungen. Man mag vielleicht einen Moment über diese Finte nachdenken, wer bei Trost ist, wird sie kaum ernst nehmen können. Nicht so Beate, die sich den Tipp sogar akribisch notiert. Und so reiht sich bis zum Ende ein unrealistisches Szenario ans nächste, bis hin zu einem unbefriedigenden offenen Ende. Neben dem auf Seite 108 geschilderten Traum, in dem eine von Amir angeführte Armee nackter Männer sich über eine Horde aus Blüten hervorgewachsener Soldaten hermacht, die sich anscheinend nichts mehr gewünscht haben, als endlich einmal von einem männlichen Glied penetriert zu werden, dürfte die größte Zumutung des Textes wohl darin bestehen, dass ausgerechnet das zentrale Geschehen, das sich zwischen Beate und ihrem Chef abspielt, im Verborgenen bleibt (S. 108 – 109). Wenn die Geschichte nicht von Anfang bis Ende gaga sein soll, gilt es daher, das Kalkül aufzuspüren, mit dem Juliane Liebert ihren Leserinnen und Lesern ihre Intention näherzubringen versucht.
Dazu muss der Blick noch einmal auf das Geflecht von Unrealistischem und Unwahrscheinlichem gerichtet werden, das die Kurzgeschichte bestimmt. Mit ihm verwoben sind unverhohlen einige im feministischen Diskurs wurzelnde Wunschvorstellungen, moderne Liebeskonzepte und Entwürfe wünschbarer, sehr liberaler Rollen im Miteinander von Männern und Frauen. Diesen liberalen und teils befremdenden Konzepten stehen die dominierenden Werte und Überzeugungen unserer Gesellschaft gegenüber, die Liebert druckvoll zu relativieren versucht. Der verbreiteten Homophobie der Männer stellt Liebert einen selbstbewussten Homosexuellen gegenüber, der davon zu berichten weiß, dass unzählige andere Männer insgeheim ebenfalls homosexuelle Gelüste haben. Den „spießige[n]“ Äußerungen über die Gefahren von Beates Vorhaben, die so ziemlich alle Gefahren und Nachteile auflisten, denen eine Frau ausgesetzt ist, die sich auf einen Mann von Uwes Kaliber einlässt (S. 105), stellt Liebert das Liebesverhältnis zwischen der Ich-Erzählerin und Beate gegenüber, dass anscheinend keine Eifersucht kennt und von dem Selbst- und Fremdverständnis geprägt ist, dass Menschen sich in einer Liebesbeziehung als Freie begegnen, die aneinander keine Besitzansprüche stellen. Wenn Beate mit ihrem Chef schlafen will, ist das zwar möglicherweise eine große Dummheit, aber ansonsten okay. Jedenfalls macht die Ich-Erzählerin Beate keine Szene. Kein Wort von Untreue oder Verrat. Und am Ende von Seite 105 rückt Liebert wohl mit dem inhaltlichen Kern ihrer Kurzgeschichte heraus. Es gehe, so lässt Liebert die studierte Philosophin Beate (S. 104) sagen, „nicht um meinen Chef, es geht um viel mehr. Es geht um die Beseitigung des Bösen“.
Gar zu einfach wäre es, wenn mit dem „Bösen“ allein die „Uwes auf der Welt“ (S. 109) gemeint wären. Das Böse sind die tradierten gesellschaftlichen Verhältnisse, die Männer und Frauen in die uns allen vertrauten und möglicherweise auch erlittenen Rollen gepresst haben, in für unumstößlich gehaltene und ewig gültige Normen, die seit Menschengedenken Frauen den Männern unterworfen, sie zu Sklaven, Minderwertigen, zum Besitz der Männer gemacht haben. Normen, die vorschreiben, dass Sex an Liebesbeziehungen gebunden sein muss, Eifersucht ein legitimer Grund für einen Femizid sein kann und Homo- oder Bisexualität verachtenswert sind, auch wenn es mittlerweile zum guten Ton gehört, die zahlreichen diversen Sexualitäten zu respektieren, solange sie nicht propagandistisch zu Unterrichtsthemen gemodelt werden.
Zwar findet Lieberts Geschichte einen Höhepunkt in dem provokanten Traum, dessen zentraler Wunsch (nach Freud sind alle Träume Wunscherfüllung) darin besteht, alle Soldaten (und überhaupt Männer) dieser Welt möchten doch lieber miteinander vögeln, statt Frauen zu vergewaltigen und in ihren Kriegen Menschen zu töten und sich töten zu lassen, aber bei genauem Hinsehen entpuppt sich die gesamte Geschichte als irrealer Traum, in dem sich neue Rollen, neue Verhältnisse ankündigen, oder vielleicht schon auf dem Weg sind. Aber woher Beate die magischen Kräfte hernimmt, mit denen sie am Ende ihren Chef bezwingt, scheint Liebert nicht zu wissen. Es ist nur ein Traum, eine Wunschvorstellung, dass es einer Frau gelingen kann, dem wilden Mann mit bloßem Blick Einhalt zu gebieten und ihn schließlich in Tränen ausbrechen zu lassen. Worüber? Über die Gewalt und das Unrecht, die Frauen seit dem Beginn der Zivilisation angetan wurden. Was dafür geschehen muss? Die Antwort darauf überlässt Liebert ihren Leserinnen und Lesern. Das Rätsel hat seinen Schlüssel in der Eskalation des Verführungsversuchs und dem Geschehen, das sich anschließend unseren Augen und Ohren verschließt. Angesichts des immer noch undenkbaren Verheilens der Wunde zwischen Mann und Frau sollen wir unsere Fantasie bemühen, wenn wir nicht vor dieser großen Aufgabe resignieren wollen.
So wünschbar und notwendig ein radikaler und feministischer Wandel der Geschlechterrollen und der damit verbundenen unheilvollen Sozialisation ist, scheint es am Ende doch, als überfordere Juliane Liebert mit ihrer Kurzgeschichte ihre Adressaten. Die pauschalen Urteile über die Männer unserer Zeit, die sie Amir in den Mund legt, der es ja wissen muss, wirken, als seien es ihre eigenen. Und weil am Schluss wenig mehr bleibt, als Beates Abrechnung mit Uwe mit einer Gewaltfantasie zu füllen, bleibt die Geschichte eher als ironisch gebrochene Wutrede in Erinnerung, denn als engagierte Einladung zu einer Zeitenwende in den Geschlechterverhältnissen.
[…] aus einer Rede zur Eröffnung der Ausstellung der Kunst-Klasse eines Gymnasiums
von André M. Kuhl
[…] Die vergangenen fast drei Jahre der schon bald vor dem Abschluss stehenden Kunst-Klasse standen unter keinem guten Stern: Die Einschränkungen unter Corona durchkreuzten bereits im ersten Halbjahr der Oberstufe manche Pläne, und setzten sich auch 2021 fort, Anfang 2022 begann der Krieg in der Ukraine –und nicht nur als Hintergrundrauschen hörten wir vom endgültigen Scheitern des 1,5-Grad-Zieles. Das furchtbarste Ereignis für uns war jedoch der schreckliche Unfall-Tod einer Mitschülerin. Die heutige festliche Eröffnung der Ausstellung des ästhetischen Profils der Domschule ist zugleich Anlass des Gedenkens. Wie gern hätten wir den heutigen Abend gemeinsam mit […] erlebt!
So ohnmächtig wir vor dem Tod stehen – dem geliebter Menschen oder dem eigenen – so ohnmächtig dürfte sich eine ganze Generation junger Menschen angesichts der zahlreichen in die Zukunft weisenden Sackgassen fühlen: Weitere Pandemien werden folgen, der Klimawandel und seine unabsehbaren Konsequenzen sind nicht mehr aufzuhalten, der Krieg Russlands gegen die Ukraine kündigt womöglich eine Ära neuer gewaltsamer, kriegerischer Annullierungen territorialer Grenzen an, eine breite antiaufklärerische Bewegung schaufelt aus dem Unrat der Geschichte neue autoritäre und diktatorische Regime an die Macht, das Finanz- und Rentensystem nähert sich unaufhaltsam dem Zusammenbruch. Die Versprechen, die noch meiner Generation gemacht wurden und zu großen Teilen auch gehalten wurden, hallen für die Jugend kaum noch vernehmbar im kalten Wege-Leit-System verordneter Zukunftsträume nach. Zwei Wirklichkeiten spalten sich vor unseren Augen auf: die der Alten und die der Jungen. Allerdings nicht mehr wie in früheren Zeiten unter den Vorzeichen von Pubertät, Sturm und Drang. Ich will im Folgenden versuchen, diese Spaltung am Beispiel eines interessanten Horrorfilms aus dem Jahr 2001 zu veranschaulichen: In diesem Film lebt eine Familie im Jahr 1945 in einem einst prächtigen, ländlich gelegenen Anwesen. Die Kinder leiden unter einer Lichtallergie und müssen sich in dunklen Zimmern hinter Vorhängen und Verschlägen verbergen, umsorgt von der hypervorsichtigen Mutter. Wie es sich für einen Horrorfilm gehört, geschehen nun bald geisterhafte Dinge, Türen öffnen sich von selbst, der Flügel erklingt im einsamen Saal, Stimmen sind zu hören, schemenhafte Gestalten zu sehen. Bald sind die Bewohner des Hauses davon überzeugt, dass sie von Geistern belagert werden. Der Plot-Twist gegen Ende des Films besteht allerdings darin, dass sich die Hauptfiguren selbst als die unerlösten Geister erweisen, die vermeintlichen Geister dagegen sind Menschen aus Fleisch, Blut und Gänsehaut, die sich ihrerseits durch die Geister in diesem unheilvollen Haus belästigt sehen.
In gewisser Weise lässt sich das Verhältnis von uns Alten zu Euch Jungen mit dieser geisterhaften Situation vergleichen. Was ist das für ein Ort, an dem es zu spuken scheint?
Utopia
Utopia war mal im allgemeinen Sprachgebrauch (der inhaltlich nur noch wenig mit der von Thomas Morus erfundenen Insel zu tun hat) ein in der Zukunft angesiedelter Ort des besseren, gerechten und richtigen gesellschaftlichen Lebens, die Vision der Vermählung unserer humanen Werte mit den realen materiellen Bedingungen irdischen Lebens. Die – lassen Sie es mich so provokativ formulieren – Lost Generation 2.0 findet ihr Utopia, diesen Nicht-Ort längst nicht mehr in Visionen einer besseren Zukunft. Wie auch? Ihr Utopia ist ganz und gar gegenwärtig. Dieser Nicht-Ort ist ein virtual space, ein von künstlicher Intelligenz arrangiertes Environment, ein virtueller Lebensraum, der demjenigen, der darin interagiert, die wohlig-unheimliche Suggestion vermittelt, an diesem Un-Ort ein reales und gelingendes Leben führen zu können.
Mit Verachtung und Sorge beobachten wir Alten den Rückzug der Jungen ins geisterhafte Reich der Virtualität und der entmaterialisierten sozialen Netzwerke – Netflix, Tik-Tok, Reddit, Discord. Wenigstens ein soziales Jahr sollen sie demnächst absolvieren, damit sie endlich auch mal mit der wirklichen Wirklichkeit in Berührung kommen.
Blicken wir Alten jedoch aus ihrer, der jungen Perspektive auf uns und die alte Welt, steht überm Portal ins von uns so eifrig beworbene wirkliche Leben jener unheilverkündende Spruch aus Dantes Göttlicher Komödie: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!“
Von Dantes Vorhof der Hölle mache ich einen großen Schritt zu Schiller und Nietzsche, denn nun kommt – im wörtlichen Sinne – die Kunst … ins Spiel. Denn die Kunst ist das letzte verbliebene Reich der Freiheit, der utopische Ort, wo aus freiem Spiel neue Ideen erwachsen können. Für Nietzsche bestand das Ziel individueller menschlicher Entwicklung darin, zum spielenden Kind zu werden. Oder Schiller im 15. Brief seiner Abhandlung über die ästhetische Erziehung des Menschen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Die künstlerische Tätigkeit ist freies, unmoralisches, unkorrektes Spiel, ist Training für das Denken des Undenkbaren, ist Kreativität in dem emphatischen Sinne, dass sie Lösungskompetenz für scheinbar unlösbare Probleme ist. Sie gedeiht an verborgenen Orten, jenseits von Überwachung und Kontrolle.
Aber….
Kunst – wozu? Frei – wozu?
Weder der Rückwärtsgang noch der kraftvolle Sprint in die Zukunft befreit uns aus unserer wahrhaft verrammelten Gegenwart. Viel ist gegenwärtig von „Zeitenwenden“ die Rede. Keine Wende konnte bislang vollzogen werden. Vielmehr leben wir in einer Schwellenzeit. Liminalität kennzeichnet die Tiefenstrukturen der Lost Generation 2.0. Unklar ist, was kommen wird. Jedenfalls wird es nie wieder so sein, wie es früher nie war.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie heute die in den letzten zweieinhalb Jahren entstandenen Bilder einer kleinen, kaum repräsentativ zu nennenden Gruppe junger Menschen sehen, mögen Sie in manchen Augenblicken das Gefühl haben, Sie hörten verzweifelte oder zynische Rufe aus der Gruft de Web 2.0 und wir Alten müssten die Jungen mal gehörig aufrütteln, am Kragen packen, ihnen gut zureden oder auch gönnerhaft Mut zusprechen. Nicht die Jungen drohen in der Vorhölle virtueller Welten zu verdorren, wir Alten haben uns längst bequem im Vestibül der Hölle eingerichtet, denn wir haben uns mit unserer Ohnmacht schon lange abgefunden, unser Leben ist der blutige Ernst schlechthin, kein Spieltrieb lässt noch unsere Kreativität erblühen, wir repräsentieren das Ende der Geschichte. Wir Alten sind es, die zwischen verwitterten Wänden spuken.
Schauen Sie genau hin, hören Sie genau hin! In der Ausstellung vernehmen wir Untoten leise Nachrichten aus Utopia.
Die NASA entdeckt einen Schwarm mehrerer kilometergroßer Asteroiden, die auf die Erde zusteuern. In etwa drei Jahren wird diese kosmische Schrotladung unweigerlich auf unseren Planeten niederprasseln und vermutlich alles Leben vernichten. In den Medien wird die nahende Apokalypse verkündet, Wissenschaftler erstellen Berechnungen der Flugbahnen, schüren Hoffnungen auf Wahrscheinlichkeiten, doch sind die 20 oder 30 Prozent, mit denen wir dem galaktischen Blattschuss entkommen könnten, wenig beruhigend. Werden wir nach anfänglicher Schockstarre Rettung und Trost bei den großen Religionen suchen? Oder verdrängen, abwarten, hoffen auf eine explosive technische Lösung mit Raketen und Bomben?
Das Katastrophenszenario animiert zu vielfältigen Spekulationen, wie Wissenschaft und Technik in der kurzen Frist zu Höchstleistungen herausgefordert würden und das gesellschaftliche Leben lange vor den Einschlägen von Anarchie und Chaos zerstoben werden würde. Kammerspielartig hat sich Lars von Trier vor Jahren in seinem Film „Melancholia“ mit den Reaktionen einer kleinen Gruppe von Menschen auf den bevorstehenden kollektiven Exitus beschäftigt, der jeglichen Lebenssinn in Angst erstickt und alle Hoffnung spendenden Narrative verblassen lässt. Bei Lars von Trier wandelt sich das berauschende Himmelsspektakel innerhalb weniger Tage oder Stunden in ein zerstörerisches Liebesspiel planetarer Anziehungskräfte. Es dauert nicht lange, bis alle Menschheitsträume und -traumata buchstäblich zerplatzen.
Was aber würde geschehen, wenn wir wüssten, dass noch drei oder auch fünf Jahre vor uns liegen, in denen wir unser irdisches Leben auskosten können? Zu viel Zeit, um sofort den Beruf an den Nagel zu hängen, zu viel Zeit, um die Super- und Baumärkte zu plündern, zu viel Zeit, um sich ins Dauergebet zu versenken.
Es ist eine lange Zugreise, auf der Nina und ich im Gespräch auf dieses wenig originelle Szenario stoßen und uns zu fragen beginnen: Was würden wir tun, wenn wir trotz bester Gesundheit nur noch drei Jahre zu leben hätten? Was möchten wir noch erleben, erfahren, kennenlernen, verstehen? Wir werden nicht, wie erhofft, gemeinsam alt werden. Der Klimawandel verliert seinen Schrecken, weil es ihn nicht geben wird. Mögen die Polkappen doch schmelzen! Es lohnt nicht mehr die Schweine aus den engen Mastanlagen zu befreien, das Rinderfilet darf wieder moralinfrei genossen werden, der Sportwagen mit 12-Zylinder-Verbrennungsmotor lädt wieder ein zum Geschwindigkeitsrausch auf Autobahnen und Landstraßen. Noch drei Sommer, drei Winter – was fangen wir mit unserem Leben noch an?
„Mir fällt nichts ein“, sage ich.
„Sicher?“, fragt Nina und schaut mich von unten herauf über ihre Lesebrille an. Sie liest gerade einen ZEIT-Artikel über Bonobos und Schimpansen. Titel: „Freundlichkeit siegt“.
„Nur Unanständiges, du weißt schon. All die Dinge, die wir noch nicht gemacht haben, die mir im Moment aber auch nicht einfallen. Reisen, alle Menschen werden reisen wollen, um alles das zu sehen, was sie noch nicht gesehen haben.“
„Klar“, sagt Nina, „alle werden reisen wollen. Aber dann ist da möglicherweise niemand, der die Passagiermaschine nach Neuseeland steuert, niemand, der dir eine Unterkunft bietet, weil die Hoteliers, die Vermieter von Ferienwohnungen, die Kellner und Köche, Zimmermädchen und Zimmerbübchen ebenfalls auf Reisen sind. Wir können uns das Chaos nicht ausdenken. Wir werden vielleicht unsere gesamte Habe verkaufen wollen, um das Geld für unsere Reisen zusammenzukratzen. Aber wer will dann noch unnützes Zeug kaufen? Was sollen wir verkaufen, wenn alle alles verkaufen wollen? Es gibt keine Käufer mehr, niemanden, der noch irgendwas anhäufen will. Wer will noch arbeiten, wenn alle nur noch leben wollen.“
„Reguliert sich das nicht von selbst? Alle arbeiten weniger und gönnen sich mehr Freizeit. Das meiste, was heute produziert wird, braucht dann doch keiner mehr. Genau genommen schon jetzt nicht mehr. Ergo: weniger Waren und Dienstleistungen, weniger Arbeit. Und die Notenbanken drucken einfach weiter Geld.“
Nina findet das nicht überzeugend. Sie meint, alle Wirtschaftsabläufe würden zusammenbrechen, wenn alle täten, was ihnen Spaß macht.
„Eben. Wenn sie merken, dass das nicht funktioniert, werden sie wieder arbeiten, aber eben nur das Nötigste. Abgesehen von denen, die depressiv und wie gelähmt sind.“
„Das funktioniert nur, wenn die Darwinisten unrecht haben und nicht die Starken und Rücksichtslosen gewinnen, sondern die Freundlichen, wie es gerade in der ZEIT zu lesen ist. Es müsste schon einen Paradigmenwechsel in Rekordzeit geben. Alle sind lieb und rücksichtsvoll zueinander, teilen ihre Habe und ackern die letzten drei Jahre ihres Lebens gemeinsam auf den Feldern, für Kartoffeln und Gemüse. Hältst du das für realistisch?“
Nein, ich halte das nicht für realistisch. Und ich mag mir das Chaos, das Elend, die verhungernden Menschen, die Morde und Raubüberfälle nicht vorstellen.
„Wenn du nichts mehr zu verlieren hast, wenn alle nichts mehr zu verlieren haben – bricht sich da nicht ein universeller Egotrip Bahn?“
Wir lassen unsere Blicke durchs Abteil schweifen. Freundlich gelangweilte Mitfahrer, alle hinter Hund-Hasen-Bedeckungen versteckt.
„Haha, Hund-Hasen-Bedeckungen. Müsste man mal zeichnen. Die Sache ist doch die: Es geht nicht um das dystopische Szenario, bei dem wir schon vor dem eigentlichen Untergang uns gegenseitig den Garaus machen.“
„Sondern?“
„Das Gedankenspiel kitzelt eine ganz andere Frage hervor, nämlich die, was noch sinnvoll ist, wenn nichts mehr Sinn hat, wenn du alle Illusionen, die dich im Moment noch am Leben und Hoffen halten, wegstreichst. Wir arbeiten, damit wir im Alter eine auskömmliche Rente haben, mit der wir all die Unternehmungen finanzieren können, die wir uns heute verkneifen. Zum Beispiel mal ein halbes Jahr in Rom wohnen oder Amsterdam. Wir vertagen unsere Träume in eine angeblich bessere Zukunft. Was aber wäre jetzt schon möglich? Was ist in der universellen Sinnlosigkeit sinnvoll?“
„Rom, Amsterdam – um da dann was zu tun?“
„Die Stadt aus dem Blickwinkel des Bewohners kennenlernen, Menschen kennenlernen, sie zu Hause besuchen, endlich die Sprache richtig lernen.“
„Wenn da wegen der angekündigten Apokalypse der reguläre Betrieb eingestellt wird?“
„Eben nicht. Vergiss die Apokalypse! Die Frage ist: Was willst du jetzt tun, wenn der größte Teil deiner Tätigkeiten, Käufe, Vorsorgemaßnahmen etc. pp. sich mit einem Schlag als sinnlos erweisen? Auch ohne Apokalypse. Was bleibt übrig? Was kannst du wegstreichen, weil es angesichts des uns alle irgendwann ereilenden Todes sinnlos ist? Wenn alle Glücksversprechen, die auf Wohlstand und Konsum aufbauen, sich als illusorisch erweisen?“
Nina macht mir Angst. Für die innere, psychische Apokalypse braucht es anscheinend keinen Asteroideneinschlag. Da genügt eine Philosophin mit dem Hammer. Jetzt geht es um die Umwertung aller Werte und die Selbstbefreiung vom falschen ideologischen Bewusstsein. Die Wiederkehr der Marx-Nietzsche-Apokalypse.
„Was schlägst du vor?“, frage ich.
„Ein Ausschlussverfahren? Mach eine Liste: die Wohnung renovieren – überflüssig; die Verstopfung im Klo beseitigen – notwendig; essen, trinken, schlafen, nicht erfrieren – notwendig; neue Klamotten kaufen – überflüssig. Stereoanlage, Fernseher, Hometrainer, Backautomat, Kosmetika, Zeitschriften, Fotoapparat, Deko und Stell-mich-Hinchen …“ Nina stockt.
„Schuhe“, sage ich.
„Ja, Schuhe, die sind notwendig.“
„Aber nicht noch mehr Schuhe.“
„Nein, keine neuen Schuhe. Siehst du, wir denken immer nur in den Kategorien des Konsums. Als ob wir mit Waren, mit Gegenständen unsere Identität bestückten. Wir kaufen uns sogar Erlebnisse. Kino, Netflix, Musik.“
„Kultur eben.“
„Brauchen wir irgendwie. Was davon brauchen wir wirklich? Was davon hat nichts mit Konsum zu tun?“
„Wir haben nur unser Leben. Und unser Leben sind unsere Erinnerungen. Die wollen wir bis zur letzten Minute haben. Wir wollen auf ein erfülltes Leben zurückblicken, am besten jederzeit.“
„Damit man jederzeit dankbar tot umfallen kann. Was wir erlebt haben, kann uns nur der Tod nehmen, oder die Demenz.“
„So wird eine Philosophie daraus: Lebe jetzt und folge rücksichtslos deinen Träumen und Sehnsüchten.“
„Nicht rücksichtslos.“ Nina schüttelt den Kopf und setzt ihren strengen Blick auf.
Ich korrigiere mich: „Freundlich. Folge freundlich und rücksichtsvoll deinen Träumen und Sehnsüchten, aber sei kompromisslos. Das ist es doch, wir machen dauernd irgendwelche Kompromisse und grätschen unseren Träumen und Sehnsüchten in die Beine. Wir stolpern nur so durchs Leben, weil wir glauben, es den anderen immer recht machen zu müssen. Ist das nicht diese fiese, fatale Freundlichkeit?“
„Nee, ist es nicht. Das ist unsere Angst, von den anderen nicht akzeptiert zu werden, wenn wir nicht tun, was die sich vorstellen. Du weißt schon: diese Art von doppelter Kontingenz, die Erwartungserwartungen. Wir erwarten, dass die Anderen etwas Bestimmtes von uns erwarten, wissen aber nicht, ob sie es wirklich tun und was es ist.“
„Meistens tun sie’s.“
„Was?“
„Sie denken meistens, was wir glauben, dass sie es denken.“
„Wenn die uns nicht so akzeptieren, wie wir sind und was wir denken, hat das aber keine negativen Konsequenzen für die. Es geht sie nicht wirklich etwas an. Absurderweise sind wir diejenigen, die sich dann unwohl fühlen. Also ein komischer, geradezu abseitiger Selbstschutz. Du verhältst dich so, wie du glaubst, dass die Anderen es von dir erwarten, um dich wohl zu fühlen. Damit du keine Scham empfindest. Obwohl dir klar sein könnte, dass du es den Anderen gar nicht recht machen müsstest, vor allem dann nicht, wenn du das Richtige tust, das, wovon du überzeugt bist.“
„Aber wir unterlassen es zumeist, weil wir es uns mit den anderen nicht verderben wollen. Ist doch so.“ Mir schwirrt ein weiterer Gedanke durch den Kopf. Sind unsere Überzeugungen nicht auch schon davon geprägt, was die Anderen denken? Gibt es überhaupt so etwas wie originäre, individuelle Überzeugungen und Werte? Bevor ich unsre Diskussion erfolgreich verkomplizieren kann, schlägt Nina bereits den ersten Pflock für eine elementare Ethik ein.
„Stimmt. Also, Punkt eins der Verhaltensregeln für eine sinnlose Welt: Folge freundlich deinen Sehnsüchten und Überzeugungen. Punkt zwei: Du bist auf das Wohlwollen der Anderen angewiesen. Mache sie, wann immer möglich, zu Freunden oder Unterstützern! Pflege deine Beziehungen! Aber sei im Zweifel kompromisslos! Und noch?“
„Punkt drei: essen, trinken, schlafen, ein Dach über den Kopf haben, ach ja, Sex nicht zu vergessen.“
„Zärtlichkeit und Liebe finde ich universeller als rough sex. Und alles, was schön ist. Ich meine nicht bloß angenehm, die Dinge, die dich Schönheit empfinden lassen. Also auch Musik zum Beispiel. Singen ist essenziell. Komischerweise singt kaum jemand auf der Straße, obwohl es doch ein tiefes Bedürfnis ist. Allein singen, gemeinsam singen, trommeln, musizieren, tanzen. In der Natur sein. “
„Ich fasse zusammen, Punkt vier: kulturelle Selfmade-Improvisation und erotische Gruppentänze.“
„Zärtlichkeit, das bringt mich auf einen Gedanken. Gehört alles, was dem Körper guttut, in die Kategorie Essen etc.? Oder ist das ein eigener Punkt? Wir können nicht leben ohne Berührungen. Warum haben immer mehr Menschen Hunde? Sie brauchen ein lebendiges Wesen, das sie berühren und streicheln können und das sich an sie anschmiegt. Dafür hab‘ ich zum Glück dich.“
„Und Gespräche, Blicke, das wiederholte mehr oder weniger Verliebtsein. Sympathie, wenn du so willst. Wenn du jemanden wirklich interessant und sympathisch findest, dann bist du irgendwie auch verliebt.“
Nina zieht die Augenbrauen zusammen. „Irgendwas fehlt noch.“
„Sex habe ich schon erwähnt. Aber wir könnten noch differenzieren zwischen must have und must not have. Obwohl …“
„Nein, ist mir klar, wie wichtig dir das ist. Ich meine noch was anderes. Menschen sind neugierig, sie wollen wissen und erkennen, verstehen, begreifen, Neues kennenlernen, die Welt und den Kosmos erkunden und verstehen.“
„Das Vernichtungspotenzial von Asteroiden zum Beispiel. Punkt soundsoviel: Erkenntnis, Befriedigung der angeborenen Neugier. Ist okay. Wir haben also die Befriedigung unserer kreatürlichen Bedürfnisse, Sex inbegriffen. Auch Fortpflanzung und Familie? Sind das auch natürlich-kreatürliche Grundbedürfnisse?“
„Problemzone. Lassen wir vorübergehend mal weg.“
Ist vielleicht ganz gut, keine eigenen Kinder dieser allumfassenden Sinnlosigkeit ausgeliefert zu wissen, ganz zu schweigen davon, sie nicht in einem apokalyptischen Feuersturm verbrennen sehen zu müssen. Dennoch bleibt die ungewollte Kinderlosigkeit eine Kränkung. Für Nina mehr als für mich.
„Freundlichkeit, Beziehungen, was war sonst noch? Kulturelles Leben. Irgendwie ist das mit den Sehnsüchten und Träumereien jetzt unpassend. Wonach sehnen wir uns denn? Wovon träumen wir? Deine Definition eines gelingenden Lebens in der Sinnlosigkeit klingt paradiesisch – und dann auch wieder gähnend langweilig. Ich habe viele Freunde, bin nett zu denen, teile mir mit ihnen das Essen und den Rotwein, lese ein paar schlaue Bücher, gehe in der Natur spazieren und singe ein Liedchen dabei. Das einzige echte Highlight dürfte da der Sex sein. Und der müsste dann schon richtig gut sein. Was ja machbar ist. Wovon träumst du? Was würde dich im Schlaraffenland so richtig in Wallung bringen?“
„Abenteuer. Paradies ist in der Tat langweilig. Wenn man keine Abenteuer erleben kann, wird das komfortabelste Leben langweilig. Alle Menschen sehnen sich nach Abenteuern. Darum lesen sie Romane, schauen Filme, stürzen sich mit Gleitschirmen von Klippen und so. Sie sehnen sich nach Risiko und ein bisschen Angst. Nach dem Unberechenbaren, das sie zu beherrschen lernen.“
„Abenteuer. Hmm. Romane, Filme, übrigens auch Pornos. Kann es sein, dass wir zwar sehnsüchtig nach Abenteuern sind, aber Angst davor haben, sie selbst zu erleben? Das wilde, promiskuitive Leben zum Beispiel, vor dem wir uns fürchten wie das Kaninchen vor der Schlange. Die größten Abenteuer lassen wir unsere Stellvertreter in Romanen und Filmen erleben. Ist aufregend und weitgehend ohne Risiko für Leib, Leben und Beziehung.“
Wir verstummen und versinken in Gedanken. Die entscheidende Frage nach einem wirklich lebenswerten Leben dürften die Abenteuer sein, auf die man sich leibhaftig einlässt. Und die wären? Ich bringe mich ungern in Gefahr und habe mir wohl auch aus diesem Grund noch nie ein Bein oder einen Arm gebrochen. Ich meide Risiken und Konflikte. Ich habe mich zumeist mit den sprichwörtlichen Abenteuern im Kopf begnügt. Aber jetzt, wenn meine Abenteuer nicht mehr nur in meinem Kopf oder auf einer Kinoleinwand stattfinden sollen, beginnt dieses Kribbeln. Mit den Abenteuern, die mir spontan einfallen, würde ich auf jeden Fall meine Ehe riskieren. Da müsste ich wohl freundlichst Rücksicht auf Ninas Gefühle nehmen. Erotische Eskapaden, die ich kompromisslos durchziehen würde, würden nämlich bei Nina nicht auf die von ihr gerade eben noch unterstellte Akzeptanz stoßen. Das kollidiert mit Punkt zwei: Pflege deine Beziehungen, denn du bist auf die Anderen angewiesen! Und ich erst auf Nina! Wenn ich nur wüsste, was Nina gerade denkt! Und wenn ich sie frage – wird sie mir genauso unaufrichtig antworten wie ich, wenn sie mich fragen würde? Hm, na, lieber Pjotr, woran denkst du gerade? Nix. Mir fällt nichts ein.
„Was wäre denn für dich ein richtiges Abenteuer?“, frage ich.
Nina überlegt eine Weile. „Mal im Wald unter freiem Himmel übernachten. Die Tiere hören, die umherschleichen, die Stille, der Geruch des feuchten Waldbodens. Das dürfte mit einer erregenden Angstlust verbunden sein. Oder den Rucksack packen und einfach drauflos wandern und keine Ahnung haben, wo man am Abend übernachten kann und was man essen wird. Nackt baden in Seen und Flüssen.“
„Das Abenteuer beim Nacktbaden würde vermutlich darin bestehen, dabei nicht beobachtet zu werden. Die Angstlust wäre aber im Gegenteil viel größer, genau das zu riskieren und auszuhalten: dabei von anderen beobachtet zu werden. Apropos Wald und Nacht: Wir haben noch nie Sex im Wald gehabt.“
„Doch, haben wir.“
„Nicht so richtig. Nicht splitterfasernackt zwischen suhlenden Wildschweinen.“
„Okay, Sex im Wald.“
„Und in der Umkleide bei Hertie oder so.“
„Wozu? Stelle ich mir unbequem vor.“
„Nur ein bisschen Gefummel mit der Angst, dabei entdeckt zu werden.“
„Ist dir eigentlich klar, dass uns hier alle zuhören können?“
„Wie abenteuerlich! Wir haben Angst, bei unseren Gesprächen über Sex belauscht zu werden. Also lass es uns tun!“
„Wir sind freundlich und rücksichtsvoll. Warum sollen wir unsere Umwelt verstören? Lass mich den Artikel zu Ende lesen.“ Nina schiebt sich die Lesebrille zurecht.
„Würden wir das? Wären die verstört? Also, ich sehne mich danach, endlich einmal ein paar Leute bei ihren Gesprächen über Sex belauschen zu dürfen. Meinst du, den anderen geht es nicht ähnlich? Ich freue mich auch jedes Mal, wenn unsere Nachbarin gegenüber nackt durchs Wohnzimmer geht oder sich bei geöffneten Gardinen auszieht. Ich weiß. Ich sollte da nicht hinsehen. Diskretion! Taktgefühl, Anstand! Aber es bereitet mir Freude. Ich sehne mich nach diesem Anblick. Und hinter irgendwelchen dunklen Fenstern gegenüber könnten Männer und Frauen stehen, die sich danach sehnen, auch dich mal nackt am Fenster stehen zu sehen. Das mit den Sehnsüchten ist einerseits kompliziert und peinlich, andererseits sind die Sehnsüchte der Menschen gar nicht so verschieden. Glaube ich jedenfalls.“
„Sind das die einzigen Abenteuer, die dir einfallen?“
„Pardon.“
„Singend und tanzend durch die Straßen laufen. Menschen ansprechen, die einem sympathisch erscheinen. Die Scham überwinden, die einen sonst daran hindert.“
„Wildfremde Menschen ansprechen – und dann? Smalltalk?“
„Die Frage, was ihre Sehnsüchte sind, welche Abenteuer sie erlebt haben, welche Abenteuer sie noch erleben möchten.“
„Und du bist sicher, dass du an ihren ehrlichen, aufrichtigen Antworten interessiert bist? Führt das nicht zu unwägbaren, will sagen: abenteuerlichen Verbindlichkeiten? Du weißt schon. Du bist eine attraktive Frau.“
„Warum nicht? Ich weiß, was in deinem Kopf vor sich geht. Du meinst, dass ich es genießen könnte, mich als Objekt der Begierde anderer zu fühlen. Ach, es wäre vielleicht sogar schön, wenn jemand zum Ausdruck brächte, dass ich anziehend auf ihn wirke, aber ich bin ja nicht auf der Welt, um anderen ihre Wünsche zu erfüllen.“
„Musst du ja nicht. Sollst du auch gar nicht. Will ich auch gar nicht. Ich habe nur das Gefühl, du erlaubst dir nicht einmal den Gedanken daran, auch wenn du im Moment die Aufgeschlossene spielst. Passt gar nicht zu dir.“
„Findest du? Vielleicht kennst du mich gar nicht so gut, wie du glaubst.“
„Ein Abenteuer zu erleben, bedeutet irgendwas Gefährliches, Entgrenzendes oder Verbotenes zu tun. Oder zumindest mit dem Gedanken zu spielen. Sei ehrlich! Ist nicht dein Ding. Sich ein klein wenig mehr als sonst in Gefahr begeben. Die Angst spüren und aushalten, wenn man befürchten muss, einen Schritt zu weit gegangen zu sein, um zu sehen, ob die Zeit für den Rückzug gekommen ist. Oder ob sich neue Optionen ergeben, die den eigenen Erfahrungsschatz positiv erweitern könnten.“
„Deine Kamikaze-Mentalität finde ich immer wieder befremdend. Insbesondere, weil die Realität weit hinter deinen Sprüchen zurückbleibt. Den Erfahrungsschatz positiv erweitern! Wir müssten erstmal ganz klein anfangen und überhaupt mal den Mut finden, im Restaurant das missratene Gericht souverän zurückgehen zu lassen, statt schweigend alles runterzuwürgen. Pjotr, wir sind in geradezu lächerlicher Weise ängstlich. Und träumen von den großen Abenteuern. Ich wage nicht mir vorzustellen, nach welchen Abenteuern dir der Sinn steht.“
„War träumen nicht einer der ersten Punkte? Ich träume für mein Leben gern. Im Unterschied zu dir träume ich nicht nur von Museumsbesuchen, Theateraufführungen, Opern, Konzerten und Übernachtungen im Wald.“
„Sondern?“
„Von Nähe, Offenheit, von Selbstoffenbarungen, Schamlosigkeit, Berührungen, von gegenseitigen Eingeständnissen der eigenen Verletzlichkeit und Schwäche.“
„Das ist dein Lieblingsthema: peinlich sein, Scham überwinden, Voyeurismus.“
„Ich trainiere quasi täglich. Aber du pfeifst mich immer zurück, wenn’s dir zu brenzlig wird.“
„Weil du übertreibst.“
„Weil du mich peinlich findest. Wie soll ich meine eigene Scham überwinden, wenn ich dauernd das Gefühl haben muss, dass du dich an meiner Stelle schämst?“
„Dauernd.“
„Oft. Zu oft.“
„Okay, ich stimme dir zu: Wer ein richtiges Abenteuer erleben will, muss bis zu einem gewissen Grad schamlos sein. Schamlos in dem Sinne: Ich versuche mich von dem Urteil der Anderen über mich und mein Verhalten weitgehend unabhängig zu machen. Sofern ich nicht die Gefühle der Anderen verletze. Du willst, dass sich die Anderen in ihrer Verletzlichkeit offenbaren. Aber es gehört sehr wenig dazu, die Gefühle anderer zu verletzen. Es hat gute Gründe, warum wir uns vor Verletzungen schützen, warum wir uns anderen gegenüber nicht komplett ausziehen.“
„Gefühle verletzen – was heißt das eigentlich? Ich bin mir nicht sicher, dass wir wirklich Gefühle verletzen, wenn wir offen und ehrlich sind. Als kopftuchtragende Muslimin kannst du in der Öffentlichkeit nicht dein Kopftuch abnehmen, ohne die Gefühle deiner Familie zu verletzen. So sagt man jedenfalls. Normverstöße können als verletzend empfunden werden? Wenn du frei sein willst, musst du hin und wieder die Gefühle der Anderen verletzen. Vielleicht stimmt das aber auch gar nicht, dass man Gefühle anderer Menschen verletzt, wenn man sagt oder tut, was man für richtig hält und was einem selbst guttut. Was sind denn das für Gefühle? Du verletzt eine Norm, aber die Gefühle, die dadurch bei anderen ausgelöst werden, sind eher Wut, Hass und Angst. Möglicherweise alles auf einmal. Du bringst mit einem Normverstoß den Gefühlshaushalt eines anderen aus dem Tritt. Der will eigentlich immer weiter chillen und keine Unordnung, die ihn zum Nachdenken zwingt, zum Nachdenken über die eigenen Standpunkte, über die Normen und Narrative, in deren Grenzen er sein Leben eingerichtet hat. Das sind keine verletzten Gefühle, das ist eine Anfechtung. Jemand zieht ihr Leben in Zweifel, wenn er gegen idiotische Normen verstößt.“
„Genau, idiotische Normen. Aber es gibt auch sinnvolle und hilfreiche Normen. Normen sind eine Währung, auf die man sich verlassen kann. Sie geben Sicherheit. Du willst zum Beispiel sicher sein, nicht angelogen zu werden.“
„Du sollst nicht lügen, nicht stehlen, nicht deines Nächsten Weib oder Mann begehren und so weiter, den Rest weiß ich nicht mehr. Also das mit dem Begehren finde ich schon mal sinnlos. Warum soll man nicht begehren, solange man nicht anfasst? Nicht töten, nicht bedrohen, nicht erniedrigen, nicht schlagen, freundlich sein – alles gut. Aber dann kommt erst mal lange nichts. Von Etikette und verletzten Gefühlen steht in der Bibel nichts. Dafür aber: Liebe deinen Nächsten. Unmoralisch sind die identitären Hater.“
„Identitäre Hater – damit machst du ein neues Fass auf.“
„Will ich gar nicht. Die interessieren mich nicht. Wir suchen eine Definition für Abenteuer, und, wenn du so willst, nach einer anthropologischen Konstante, die die Philosophen, Psychologen und Soziologen regelmäßig vergessen: Menschen suchen Sicherheit durch Regelwerke und Normen. Sie müssen das. Aber parallel dazu müssen sie sich selbst behaupten, indem sie gegen Regeln und Normen verstoßen. Ohne Regeln und Normen keine Abenteuer. Ohne Abenteuer keine neuen Normen. Oder so. Mal ganz ins Unreine gesprochen.“
„Du meinst, das ist ein dialektischer Zusammenhang. Du installierst Normen, negierst sie, um zu einem neuen Normenkanon zu gelangen, der dann wiederum negiert und im Hegelschen Sinne aufgehoben wird undsoweiter.“
„Die erste Bedingung: Abenteuer gründen auf Normen und Regeln, die durch das Abenteuer aufgehoben oder aufgeweicht werden sollen, um zu neuen oder verwandelten Normen und Regeln zu gelangen. Man könnte das als Mutationsprozess bezeichnen. So wie die Viren durch Mutationen sich immer besser an ihre Umwelt anpassen und ihr langfristiges Überleben sichern. Zum Beispiel dadurch, dass sie ihre Wirte nicht killen. Zweite Bedingung: Weil Normen und Regeln ausgesprochene oder unausgesprochene, selbst geschlossene oder ererbte Verträge zwischen Menschen sind, sind die Verstöße dagegen immer soziale Handlungen, die die Komplizenschaft weiterer Menschen erfordern. Denn die Verstöße zielen ja auf eine Legitimation und Vereinbarung neuer oder gewandelter sozialer Regeln und Normen. Den Komplizen möchte ich am liebsten schon bei meinen Verstößen dabeihaben. Nein, ich brauche ihn, denn mit mir selbst allein kann ich gar nicht gegen Normen verstoßen, oder nur gegen die in meinem Kopf.“
„Wichtiger Punkt, die Normen in deinem Kopf. Die sind doch in erster Linie in deinem Kopf. Deine Feinde sind nicht nur da draußen, die Normen sind Dämonen in deinem eigenen Kopf. Deswegen die Scham. Du schämst dich, wenn du gegen Regeln verstößt, selbst gegen sinnlose Regeln, weil die Regeln auch für dich immer noch gelten. Sie gelten, weil du dich an die Verträge mit den Anderen gebunden fühlst. Du fühlst dich wie ein Verräter, wenn du gegen sie verstößt. Du hast Angst, die Anderen zu enttäuschen, mit anderen Worten: ihre Gefühle zu verletzen. Ich möchte die These sogar noch erweitern: Du verletzt deine eigenen Gefühle.“
„Daraus folgt doch eine sehr schöne neue Definition für das Abenteuer: Du kämpfst aus Überzeugung gegen die eigenen Gefühle und die der Anderen. Wohlgemerkt aus Überzeugung.“
„Was ist das für eine Überzeugung? Ein Wissen, oder wiederum ein Gefühl. Oder eine Vermutung, Erwartung … Woher kommen deine Überzeugungen?“
„Eine Sehnsucht nach Befreiung von bestimmten Normen. Befreiung von kontraproduktiven Gefühlen der Scham. Kontraproduktiv heißt: Sie tun weder dir noch den Anderen gut.“
„Aber deine Angst hat ihren Ursprung in deinem Zweifel an dieser Sehnsucht, Zweifel, die durchaus berechtigt sein können. Du weißt nicht, ob der Zustand, in dem du dich nach deiner sogenannten Befreiung befindest, ein guter ist. Gut für dich und für andere. Reden wir doch mal Tacheles: Du sehnst dich danach, mit anderen Frauen zu schlafen. Unsere Norm dagegen ist, dass wir beide es nur miteinander tun.“
„Das habe ich nie gesagt.“
„Wie war das noch mit dem wilden, promiskuitiven Leben? Nein, das würdest du nie zugeben. Das wäre ja auch bereits der erste Tabubruch, zumindest würdest du unsere gemeinsame Norm damit in Frage stellen, wenn du diese Sehnsucht konkret formulieren würdest. Aber du hast Angst davor, diesen Schritt zu gehen. Also verwickelst du mich in eine Diskussion, bei der du versuchst, mich davon zu überzeugen, dass es Normen gibt, die sinnlos sind und deshalb beiseitegestoßen werden sollten. Deine Anspielungen zielen dabei immer wieder auf Sexuelles. Zeig dich deinen Nachbarn nackt am Fenster! Willst du das wirklich? Du möchtest anscheinend von mir hören, dass ich, so wie du, Monogamie für überholt halte.“
„Unsinn. Ich kämpfe nur für die Legitimität sexueller Fantasien. Du weißt, ich habe ein Problem damit. Ich möchte …“
„Du hast Angst, du kämpfst gegen deine persönlichen Dämonen. Und du suchst in mir eine Komplizin, die deine sexuellen Fantasien teilt. Und vor allem legitmiert.“
„Auf alle Weise freilich.“
„Aber du hast keine Traute, mir zu sagen, dass du deine Fantasien gern einmal, vorsichtig gesagt, im wirklichen Leben experimentell erkunden willst.“
„Das ist eine Unterstellung, die dir nicht zusteht. Es ist durchaus diffiziler. Ich möchte, dass die Menschen ihre Sexualität und ihre Fantasien nicht mehr voreinander verstecken, als wäre das was Unanständiges. Ich möchte zum Beispiel unserer Freundin Uta sagen können, dass ich sie enorm sexy finde und am liebsten aufregende Nacktfotos von ihr machen würde. Verstehst du? Wenn so etwas möglich wäre!“
„Bliebe es dabei? Was wäre denn der Subtext einer solchen Äußerung? Mach dich nicht lächerlich!“
„Ich möchte es nur sagen dürfen. Weil es in meinem Kopf ist und nichts daran falsch oder verwerflich ist, sowas im Kopf zu haben. Soll sie doch wissen, was ich denke und empfinde! Wer weiß, möglicherweise schlummern tief in dir drin ähnliche Fantasien. Würde dich die Vorstellung völlig kalt lassen, wenn André so etwas zu dir sagen würde? Wenn er Fotos von dir machen wollte? Wenn er dir seine dich betreffenden erotischen Vorstellungen gestehen würde? Ist dir eigentlich mal aufgefallen, wie er jedes Mal auf deine Beine starrt, wenn die beiden zu Besuch sind? Und warum ziehst du dann jedes Mal deinen kürzesten Rock an? Ich meine, den allerkürzesten. Mich freut’s und ich genieße es zu sehen, wie sexy er dich findet. Verdammt nochmal. Das darf doch wohl auch mal ausgesprochen werden!“
„Puh! Harter Tobak. Lass mich meinen Gedanken zu Ende führen. Deine Strategie zielt darauf, dass ich an deiner Stelle unsere stillschweigende Norm, ein monogames Leben zu führen, verletze. Sie zumindest in Zweifel ziehe.“
„Wir ziehen doch gerade alles in Zweifel. Das ist doch die Methode. Angesichts der fundamentalen Sinnlosigkeit musst du theoretisch auch die Monogamie in Zweifel ziehen.“
„Du vermischst gerade die Ebenen. Du hast recht: Der methodische Zweifel als Praxis der Philosophie darf vor nichts Halt machen. Aber du lässt dich dabei allein von deinen persönlichen Interessen leiten. Das ist fatal, weil es eine unzulässige Unwucht in das philosophische Modell bringt. Du musst ebenso die Promiskuitivität, dieses dionysische Leben in Zweifel ziehen, nach dem du dich sehnst. Aber um diese Systematik geht es dir gar nicht. Du sagst, du genießt zu sehen, wie sexy mich André findet. Was willst du damit bezwecken? Dass ich seine Blicke künftig immer sexuell deute und so langsam auf den Geschmack komme? Du versuchst, mich zu manipulieren.“
„Von dir habe ich doch überhaupt nicht geredet. Es geht darum, was sich in meinem Kopf abspielt und dass das legitim ist. Niemand ist damit geschadet, wenn ich es ausspreche.“
„Sprich dich aus! Sag‘ doch einfach, dass du mit Uta schlafen möchtest. Du hast es dir vermutlich schon hunderte Male ausgemalt. Denkst du an sie, wenn wir zusammen sind?“
„Herrgott, nein! Aber denkst du denn nie auch mal an andere Männer?“
„Nein, warum sollte ich? Soll ich, deiner Meinung nach?“
„Warum nicht? Was wäre schlimm daran?“
„Ich denke nicht an andere Männer, weil ich das als Untreue empfinden würde. Ich tue es einfach nicht. Weil ich keine Zeit dazu habe, weil ich anscheinend nicht sonderlich stark auf die Optik von Männern reagiere. Weil Sex nicht mein zentraler Lebenssinn ist. Und weil es außerdem deutlich mehr schöne Frauen als Männer gibt.“
„Also denkst du eher an Frauen. Hab‘ ich kein Problem mit.“
„Im Gegenteil, ich weiß, dass du damit kein Problem hättest.“
„Ich finde es unnatürlich, keine erotischen Fantasien zu haben. Es gibt eine Menge Frauen, die erotische Fantasien haben.“
„Ich bin deiner Meinung nach also nicht natürlich, nicht normal. Ich soll mich an deine Vorstellung von Natürlichkeit anpassen. Ich glaube, dass diese Frauen, von denen du redest, genau das getan haben: Sie haben sich an die Vorstellung der Männer davon, was bei Frauen normal zu sein hat, angepasst. Und ihr Soll womöglich noch übererfüllt. Das ist patriarchalisches Denken.“
„Du wehrst dich mit Händen und Füßen gegen die Einsicht, dass dir deine erotischen Fantasien durch deine Erziehung ausgetrieben wurden. Wenn du sie nicht hast, musst du sie wohl verdrängt haben. Während ich dich dabei unterstützen möchte, sie zuzulassen und kennenzulernen, wirfst du mir patriarchalisches Denken vor. Finde ich, ehrlich gesagt, absurd. Du bist alles andere als ein asexueller Mensch – wo, bitte, sind dann deine sexuellen Gedanken? Statistisch betrachtet, denken Frauen zehn Mal am Tag an Sex, einige noch viel häufiger.“
„Woher du sowas weißt! Frauen reagieren auf optische Reize nur sehr indirekt. Sie merken oft nicht einmal, dass sie etwas erregt. Du kennst das Experiment, bei dem Frauen verschiedene Pornos gezeigt wurden, unter anderem auch kopulierende Bonobos. Sie hatten nicht das Gefühl, davon erregt zu werden. Physiologisch aber waren sie eindeutig erregt. Frauen reagieren auf Berührungen, auf den unmittelbaren Kontakt. Sie brauchen keine Fantasien, um erregt zu werden, sie brauchen Berührungen.“
„Soll heißen, wenn André – nur als Beispiel – dich berühren würde, wenn er dir sanft den Nacken massierte und dir dabei zweideutige Worte ins Ohr hauchen würde undsoweiter, dann könntest du schwach werden?“
„Erstens: André? Würde der nie machen. Ist zudem nicht mein Typ. Zweitens: Massage, okay. Alles weitere, würde ich gar nicht erst geschehen lassen. Hab‘ ich das nötig? Auch wenn es mich vermutlich nicht kalt lassen würde. Das muss ich zugeben. Aber es ist keine Fantasie, die ich innerlich kultiviere.“
„Ich meine es rein theoretisch. Aber klar: Da du keine erotischen Fantasien hast, kannst du dir auch nicht vorstellen, wie verführbar du im Ernstfall wärst.“
„Und du? Für wie verführbar hältst du dich selbst?“
„Hier kommt der Unterschied zwischen uns ins Spiel. Ich kann mir die Situation sehr gut – und sogar gerne – vorstellen. Aber wenn es in Wirklichkeit dazu käme, würde ich vermutlich ganz schnell Reißaus nehmen. Während du dir die Sache nicht vorstellen kannst, aber möglicherweise in der konkreten Verführungssituation nicht Nein sagen könntest. Von wegen Unmittelbarkeit der Berührung und so.“
„Du versuchst gerade echt mir meine Sexualität zu erklären? Das dürfte wohl die höchste Stufe des Mansplaining sein.“
„Nein, absolut nicht. Aber es muss erlaubt sein, das Verhalten und die Aussagen von Menschen zu deuten. Jede Deutung kann falsch sein, unwidersprochen. Aber ich sehe die sexuellen Tabus in deiner Erziehung, die ungewöhnliche Nichtexistenz von Fantasien und deinen Hinweis, dass es dich erregen könnte, wenn ein Mann dich zu erobern versucht. Im Übrigen spiegeln genau diese drei Faktoren patriarchalisches Denken wider: Frauen haben keine sexuellen Fantasien zu haben, sollen keusch sein in Gedanken und Taten, sollen sich aber dem begehrenden Mann (sprich: Ehemann) hingeben, wenn er das will – und es geschickt genug anstellt. Ansonsten sind Sex und Erotik unanständig und daher, bitte, aus dem persönlichen Gefühlshaushalt zu streichen. Das ist ein absolut traditionelles Frauenbild. 50er-Jahre mindestens. Aufgeklärte, befreite Frauen haben eine aktive, selbstbewusste Sexualität, verdrängen ihre Lust nicht, genießen ihre erotischen Fantasien und wissen, was und wer ihnen auf welche Weise Lust verschaffen kann. Und sie holen sich, was sie brauchen.“
„Dann ist es ja raus. So habe ich deiner Meinung nach zu funktionieren, damit ich deinem Bild einer modernen Frau entspreche. Du erwartest von mir – deine Worte! –, dass ich mir hole, was ich brauche. Ich soll diese wie auch immer geartete Sexualität in mir aus dem Dornröschenschlaf wecken und dann mal so richtig die Sau rauslassen. Jetzt bin ich mal mit dem Deuten an der Reihe: Du hast da einen gewaltigen Balken im Auge. Du erwartest von mir, dass ich die Norm an deiner Stelle breche, indem ich sie für ungültig erkläre. Am liebsten wäre es dir, wenn ich mich in deinem Sinne in eine aufgeklärte, moderne, sexpositive Frau verwandele, die ihre sexuellen Fantasien pflegt und gedeihen lässt, um schließlich auch die Initiative zu ergreifen und sich einen feschen Mann zu schnappen, der auch mal ein anderer als der eigene sein darf. Ich soll den Anfang machen, damit du die Erlaubnis zu deinem ersehnten Abenteuer mit einer Anderen bekommst, oder für einen Dreier oder Vierer, oder was auch immer du dir vorstellst. Ich soll mich emanzipieren, um dich zu befreien. Du machst meine sexuelle Emanzipation zur Bedingung für deine eigene. Damit würdest du dich in eine überaus machtvolle Position versetzen. Weil es nämlich meine Entscheidung wäre. Weil ich die Verantwortung dafür übernehmen würde. Was wäre denn, wenn ich jetzt sagte: Okay, lass es uns tun? Du sagst immer nur: Ich möchte alles sagen können. Du sagst nicht: Hey, Nina, wollen wir nicht mal einen Dreier mit Uta arrangieren? Eher würdest du dir die Zunge abbeißen. Du willst mich schon seit Wochen und Monaten dazu bringen, dass ich sage: Hey, mal mit André, oder wem auch immer, zu vögeln, wäre ein richtig aufregendes Abenteuer, findest du nicht? Und du: Klar, mach, wenn du meinst, dass das gut für dich ist! Du würdest es als Legitimation für die lang ersehnte Ära promiskuitiver Abenteuer betrachten, oder – wenn du mit meinem Fremdgehen emotional dann doch nicht zurechtkämst, dich wieder auf die Seite der Norm schlagen und mich für den Bruch unseres Vertrages verurteilen und dich beleidigt, verletzt, erniedrigt in Selbstmitleid suhlen. Nach dem Motto: Sollte doch nur ein Gedankenspiel sein. Denk die Situation doch mal ganz konkret weiter! Wenn ich nun alles täte, was du von mir verlangst und ich auf den Geschmack käme und anfangen würde, wild durch die Gegend zu vögeln. Wenn ich feststellen würde, dass das mit dir schon lange nicht mehr der Kick ist und die Abenteuer mit anderen viel spannender und geiler sind. Würde dir das keine Angst machen? Würdest du dich davon nicht entwertet fühlen? Was macht das mit der Liebe zwischen uns? Lass uns aufhören mit diesem Thema. Mich törnt das ab. Es macht mich wütend.“
„Es geht überhaupt nicht darum, irgendwas in Wirklichkeit zu tun. Aber in unseren Köpfen gibt es nun einmal diese Sehnsüchte. Ich finde, man muss dazu stehen und sie zulassen dürfen. Das ist nur ein sehr kleiner Tabubruch, den ich jedoch als entlastend empfinden würde. Du überspitzt, du drehst und wendest die Sache so lange, bis sie dir passt.“
„Nein, ich lass‘ mich nur nicht für dumm verkaufen. Aber lass‘ gut sein. Ich habe doch schon lange begriffen, wie wichtig dir deine Fantasien sind und wie wenig souverän du damit umgehen kannst.“
„Gerade darum geht es mir, um die Souveränität. Aber dir fällt es schwer, mit meiner Souveränität umzugehen, und das schränkt meine Souveränität wiederum ein. Ich habe überhaupt nicht vor, was mit Uta anzufangen und will auch nicht, dass du dir André schnappst. Oder er dich.“
Langes Schweigen. Ich spüre die Röte in meinem Gesicht. So unglücklich, wie unser Gespräch verlaufen ist, wird es wohl nichts mit unserem für heute Abend verabredeten Bettvergnügen. Nina ist sauer und ich fühle mich missverstanden. Ein Vierer mit Freunden? In Wirklichkeit würde mich das nicht ein bisschen antörnen. Was fängt man schon an mit diesen unvertrauten Körpern? Wie überhaupt käme es soweit? Das Glas Wein im Sofa und irgendwann die Frage: Sagt mal, ihr beiden, seid ihr eigentlich schon mal in einem Swingerclub gewesen? Immerhin schreibt ihr in eurem Buch über so ein Erlebnis. Nein? Hab‘ ich mir gedacht. Und nie mit dem Gedanken gespielt? Auch nicht. Wie wäre es mit einem Spielchen? Der Verlierer muss jedes Mal ein Kleidungsstück ausziehen. Wer nicht am Ende völlig nackt dasteht, hat gewonnen und kann bestimmen, was die anderen zu tun haben. Unterirdisch! Primitiv. Ich könnte das nicht. Allerdings: umgekehrt? Wenn die Freunde den Vorschlag machen? Komm´ schon, Aleksander, mach mit! Das ist lustig, wir kennen uns doch schon so lange. Hast du etwa Angst? Siehst du, Nina macht auch mit. Dann wäre es auf einmal okay. Oder würde ich mich nicht selbst dann noch zieren?
Eine neue Theorie geht mir durch den Kopf. Während ich, der ich mich zu meinen ausschweifenden erotischen Fantasien bekannt habe und – da hat Nina vollkommen recht – sie zu eigenen Bekenntnissen provozieren möchte, weil ich mir unsere traute Zweisamkeit noch schöner und abenteuerlicher vorstelle, wenn wir uns frank und frei über pikante Fiktionen austauschen könnten, unterstellt sie mir unentwegt das brennende Interesse, meine Fantasien Wirklichkeit werden lassen zu wollen. Warum nur? Die Psychoanalytiker würden hier von Projektion sprechen. Sie unterstellt mir, was sie für sich kategorisch ausschließt, weil in ihr nicht sein kann, was nicht sein darf. Möglicherweise ahnt Nina, dass die Versuchungen viel zu groß sein könnten, wenn sie ihre Fantasien an die Oberfläche ihres Bewusstseins steigen ließe. Sie hat Angst vor dem, was sie zu tun bereit wäre, wenn sie die unberechenbaren Geister aus der Flasche befreite. In dem Märchen DER GEIST IM GLAS der Gebrüder Grimm lässt ein junger Mann einen kleinen Homunculus aus einer Flasche. Der bläht sich zu einem riesigen Geist auf und droht, seinen Befreier zu töten. Ein guter Grund, den Geist gar nicht erst heraus zu lassen, wenn man ahnt, dass er mir mit allen meinen Zukunftsplänen einen Strich durch die Rechnung zu machen beabsichtigt. Mit einem Plopp ist das Leben hopp. Das Märchen endet jedoch nicht mit dem Tod des leichtsinnigen Sohnes eines armen Holzhackers. Mit einer List lockt er den Geist zurück in die Flasche. Dabei könnte er es auch belassen. Wer begibt sich schon ein zweites Mal in so eine hochriskante Situation? Müsste schon ein Idiot sein. Aber der junge Mann lässt den Geist ein weiteres Mal heraus. Der Lohn: ein lächerlicher Lappen, ein Zauberlappen, wie ihm versichert wird. Als der Junge die geliehene Axt damit bestreicht, wird das Metall weich. Beim ersten Hieb verbiegt die Schneide. Der Junge blamiert sich nicht nur vor seinem Vater, die verbogene Axt stellt auch einen herben finanziellen Verlust für die Familie dar. Ziemlich blöd gelaufen! Wäre der Geist doch bloß in der Flasche geblieben! Die Pointe am Ende: Das Eisen der Axt wurde durch den Lappen in wertvolles Silber verwandelt. War also doch die richtige Entscheidung, den Geist aus der Flasche zu lassen. Und ich finde, auch Nina sollte sich entscheiden, ihre Geister aus der Flasche zu lassen. Erstens kann sie den übermächtig erscheinenden Geist, den großen Mercurius, wie es im Märchen heißt, mit einfachen Mitteln wieder auf Erbsengröße schrumpfen lassen, zweitens wird sie von ihm reich beschenkt, drittens sind die mit seiner Befreiung verbundenen Ängste und Peinlichkeiten vorübergehender Natur. Ist nur eine Theorie. Ich behalte sie für mich, denn Nina würde sie für übergriffig und unverzeihlich halten. Außerdem würde Nina sofort mit einer überwältigenden Gegentheorie aufwarten, die mir meine schöne Theorie zerstören würde.
Unterdessen hat auch Nina nachgedacht und spricht unvermittelt in die vor ihr aufgeschlagene Zeitung.
„Also nochmal in aller Ruhe. Der Punkt ist: Wir beide sind möglicherweise empathisch genug, uns nicht gegenseitig diesen Tabubruch zuzumuten, diese Unsicherheit, die daraus resultieren würde. Ich meine, wirklich mit Anderen Sex haben. Ich will das nicht, und, wenn ich dir glauben darf, auch du nicht. Du stellst es dir zwar vor, aber du würdest es mir nicht antun. Und ich dir sowieso nicht. Dieser Tabubruch würde nur gelingen, wenn einer von uns gerade nicht empathisch wäre und seinen Sehnsüchten – welche auch immer das sein mögen – rücksichtslos Taten folgen lassen würde. Wenn etwas zwischen uns nicht mehr funktionieren würde.“
„Außer, es gibt eine bislang uneingestandene Komplizenschaft, eine Synchronität der Sehnsüchte.“
In meinem Kopf spielen zwei Paare nackt Flaschendrehen. Im Innern der Flasche hüpft ein halb durchsichtiges, wild gestikulierendes Wesen herum.
„Die du mit pseudosokratischen Überredungsstrategien herzustellen versuchst, ohne selbst klar Stellung zu beziehen.“
„Hab‘ ich das nicht schon? Und außerdem: Wer von uns spielt denn hier den Sokrates?“
„Worauf ich hinaus will: dieses Verschieben der Verantwortung. Dass man die Verantwortung für eine Sache, für eine Handlung, für ein Risiko, für eine Veränderung, die man sich wünscht, einem anderen überlässt. So, wie du von mir erwartest, dass ich eine Entscheidung treffe, die dich vermeintlich befreit, statt dass du diese Entscheidung selbst triffst und dann auch die Verantwortung trägst und die Konsequenzen in kauf nimmst. Und dabei geht es überhaupt nicht mehr um Sex. Wir sind möglicherweise einer viel größeren Sache auf der Spur, einem universalen Gesetz, das weit über Liebe und Sexualität hinausgeht. Hör zu!“ Nina legt die Zeitung beiseite und richtet sich in ihrem Sessel auf. „Soziale Normen zu übertreten ist mit Angst verbunden, geradezu existentieller Angst. Denn die Gesellschaft könnte dich vermutlich bestrafen oder ausstoßen. Ich könnte dich bestrafen. Ich könnte dich verlassen, wenn du deine sexuellen Fantasien Wirklichkeit werden lässt.“
Ich will ein weiteres Mal widersprechen, aber Nina lässt mich nicht zu Wort kommen.
„Lass mich diesen Gedanken weiterentwickeln! Du willst also jemanden, der an deiner Stelle bestimmte Normen übertritt, um nicht selbst die Verantwortung dafür tragen zu müssen. Und dafür brauchst du empathielose Menschen, Psychopathen, denen es gleichgültig ist, was die Anderen über sie denken. Menschen, die keine soziale Angst kennen und darum radikal handeln können. Diese Menschen müssen nicht einmal von einer Sehnsucht getrieben sein, sie müssen einfach nur etwas tun. Sie wollen sich mächtig fühlen. Mit anderen Worten: Wir Sehnsüchtigen warten auf einen Anführer, der an unserer Stelle die Normen bricht. Scheiße nur, wenn das nicht die Normen sind, die dich persönlich zwicken, oder wenn die Sache uferlos wird. Warum hat Donald Trump eine so große Anhängerschaft? Weil er permanent Normen bricht. Weil er anscheinend den Mut besitzt, für unumstößlich gehaltene Normen zu brechen. Ein Zerstörer, der die Hoffnung auf eine neue Ordnung schürt. Aus den gleichen Gründen sind die jungen Männer 1914 begeistert in den Weltkrieg gezogen. Sie hatten die Hoffnung, die Zerstörung würde eine neue und bessere Ordnung hervorbringen. Hitler war so offenkundig ein Zerstörer, alle haben das gewusst, aber viele wollten genau das: Zerstörung. Weil sie glaubten, danach würde etwas Neues und Besseres kommen. Was das jedoch sein würde, wussten sie selbst nicht. Und am allerwenigsten Hitler. Dem reichte das Gefühl der Macht und er badete in der Euphorie über die selbst ihm unerklärliche Gefolgschaft der Massen, die auf ein großes Abenteuer aus waren. Wir wollen unsere Abenteuer nicht selbst verantworten, wir brauchen amoralische Psychopathen, denen wir in ein Abenteuer mit unabsehbaren Konsequenzen folgen können. Trump, Hitler, Orban, Putin, Charles Manson, die Taliban, Boko Haram, Bruno Göring, Martin Luther …“
„Martin Luther?“
„Selbst wenn er gute Absichten verfolgt hat, er war Egomane genug, sich während der durch die Reformation ausgelösten Bauernkriege auf die Seite des Adels zu schlagen und die gewaltsame Niederschlagung der Bauernaufstände zu fordern. Die Anführer des Volkes wenden sich schnell gegen das Volk, wenn sie ihre Macht schwinden sehen. Als Normzerstörer machen sie den Menschen Hoffnung auf die Erfüllung ihrer Sehnsüchte. Aber sie können diese Sehnsüchte gar nicht erfüllen.“
„Nach deiner Definition müsste dann auch Jesus ein Psychopath gewesen sein.“
„Nee, der hat, aus der Perspektive eines Psychopathen betrachtet, etwas vollkommen Irrwitziges getan: Er hat sich verraten und hinrichten lassen. Er hat darauf verzichtet, Macht zu bekommen, er hat sich gerade nicht auf einer Wartburg versteckt. Ich will gar nicht all diese Fässer auf einmal aufmachen. Ich sage nur: Wir sehnen uns vielleicht danach, bestimmte Normen und Regeln loszuwerden, schrecken aber vor den Risiken eigenen verantwortlichen Handelns zurück und suchen uns Psychopathen als Anführer, die diese Angst nicht besitzen. Wir machen damit den Bock zum Gärtner. Wir wünschen uns eine menschliche Welt, ja. Wir können aber nicht erwarten, dass diese Arbeit Unmenschen für uns tun, oder überhaupt irgendwelche anderen Menschen. Die Welt zu verändern, bedeutet, sie – gemessen am Bestehenden – in Unordnung zu bringen. Aber diese Unordnung ordnet sich danach nach eigenen, emergenten Gesetzen und weitgehend ohne unser individuelles Zutun. Du kannst das dann nicht mehr steuern. Die besten Absichten können in der Barbarei enden.“
„Das ist der Standpunkt der Konservativen. Ändere nichts am Status Quo, die Folgen wären unabsehbar! Das ist mir zu holzschnittartig. Wir wissen zu genau, dass die Welt nicht bleiben kann, wie sie ist.“
„Unzweifelhaft. Aber wir brauchen dafür keine Zerstörer, die behaupten, die Demokratie sei zu träge für die nötigen Veränderungen. Wir brauchen nicht diese Psychopathen in den Führungspositionen von Wirtschaft und Politik. Wir brauchen Empathie, Rücksicht, Weitsicht, Weisheit.“
„Sind wir mit dieser Erkenntnis auch nur einen Schritt weitergekommen?“
„Die Bolsonaros, Lukaschenkos, Orbans, Trumps und Putins dieser Welt spiegeln mit der durch sie provozierten Spaltung der Menschen in Gefolgschaft und Widerstand die dialektische Einheit von Sehnsucht und Angst wider, die angesichts der globalen Herausforderungen in höchste Anspannung geraten ist. Sehnsucht nach menschlichen Lebensverhältnissen für alle und Angst, zu den Verlierern zu gehören. Sehnsucht nach Veränderung und Angst vor den Konsequenzen. Das ist eine höchst explosive Situation, in der wir uns befinden. Und ich fürchte, auch wir beide leben gerade in einer höchst explosiven Situation.“
Wir beide leben in einer explosiven Situation? Was meint Nina damit? Ich fühle mich schlecht. Der Typ mit seinem Laptop auf der Nebenbank sieht verstohlen zu uns herüber. Wartet wohl gespannt auf den Fortgang unseres Gesprächs. Nina blickt aus dem Fenster und ich sehe einen bitteren Zug um ihren Mund. Ich müsste jetzt irgendwas sagen, mich weiter erklären. Aber es käme doch nur aufs Selbe hinaus: Nina hat recht. Ich möchte in Abenteuer verwickelt werden, aber nicht selbst dafür verantwortlich sein. Ich beklage mich über die Spießer, die nicht wagen zu sagen und zu tun, was sie ersehnen. Sie sollen über ihren Schatten springen, weil ich selbst es nicht kann. Und nicht will. Du zuerst! – das ist schon immer meine Devise gewesen. Ich habe nie das Zeug zur Pippi Langstrumpf gehabt, bin immer nur der kleine, ängstliche Thomas gewesen. Und Nina meine Annika? Ich blicke mich um: lauter Thomasse und Annikas mit Gesichtsmasken. Unsere Freunde und Bekannten, auch sie heißen alle Thomas oder Annika. Wie viele von ihnen mögen sich eine Pippi Langstrumpf herbeiwünschen, die sie aus ihrem Normalo-Dasein herausreißt?
Ich rufe mir einige der Abenteuer von Pippi Langstrumpf ins Gedächtnis. Viele davon hätten so richtig in die Hose gehen können. Vermutlich ist Pippi eine Psychopathin.
Wenn am Morgen hinterm gegenüberliegenden Wohnblock die Sonne in den strahlend blauen Himmel steigt, ein leichter Wind durch die Straße weht und das junge, hellgrüne Lindenlaub durchrauscht, kaum ein Auto zu hören ist, dafür vorwitzige Amselherren, Finken und Meisen, öffnen wir alle Fenster und gratulieren uns, dass wir eine doppelflügelige Balkontür haben, wenn auch der Balkon selbst klein ist. Dann sitzen wir an unserem schweren Bistrotischchen und surfen durch die Nachrichtenportale. Der Kontrast könnte größer kaum sein: Die Buche im gegenüberliegenden Hinterhof, einem üppig grünenden Gärtlein, das wir gern an Sommerabenden mit Freunden genießen, ragt bereits weit über den Dachfirst hinaus und schaukelt friedlich rauschend vor den mittlerweile heranwehenden Wolkenflocken, während düstere Bilder auf unseren Smartphones brennende Autos und flammenlodernde Supermärkte in den Staaten zeigen. Und einen Staatenlenker, der mit arroganter Fresse mit Gewehrsalven der Nationalgarde droht. Als sei dies die herbeigesehnte Gelegenheit, das demokratische System zu stürzen, indem die glühende Wut noch angefacht wird, bis sie als Bürgerkrieg oder terroristischer Angriff der Exekutive die Legitimation verleiht, durch Notstandsgesetze alle Bürgerrechte zu liquidieren. Soll Trump die unverhohlen geäußerten Ziele des Steve Bannon doch noch verwirklichen? Wohin nur mit unserem Vertrauen in die Vernunft, die Freundlichkeit und das Wohlwollen der Menschen, wenn den neuen Barbaren in der Politik und den Populisten der radikalen Ränder immer mehr hasserfülltes Gefolge zuwächst?
Wir blicken uns an und finden keine Worte. Im Kopf rotieren die Gedanken, aber sie finden keine Anker – oder zu viele, sie sind wie Widerhaken, die aus den Tentakeln der Medusa hervorsprengen, sobald man sie berührt, stechend, brennend und lähmend. Aleksander stottert etwas Unverständliches und verstummt mitten im Satz. Mein eigenes Gestammel rasselt laut von vielen Klischees, die mich unerbittlich mit meiner Ohnmacht konfrontieren: unglaublich, nicht zu fassen, wie können die nur, sind die noch ganz bei Trost? Warum gießt der auch noch Öl ins Feuer? Und warum applaudieren ihm die rechten Arschlöcher auch noch? Bemerken die nicht, was gerade auf dem Spiel steht?
Und dann bricht es aus Aleksander wieder einmal heraus: „Die sollten einfach alle mehr ficken! Am besten dreimal täglich oder sooft die Benediktsregel das Gebet vorschreibt, Vigil, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Jeder mit jedem, der ihm gerade in den Kram passt. Wie kann es sein, dass sich die Menschen gegenseitig hemmungslos nach dem Leben, der Gesundheit und dem Eigentum trachten, sich entblöden, öffentlich ihren Menschen-, Rassen- und Randgruppenhass zu kultivieren – aber alles, was mit Lust, Berührung, Zärtlichkeit, Liebe zu tun hat, den geilsten Dingen, die Menschen überhaupt miteinander machen können, tabuisieren, verurteilen, untersagen? Sollen doch alle miteinander vögeln, statt sich gegenseitig umzubringen!“
Ich frage mich manches Mal, wie Al es fertigbringt, in allem einen Anlass zu finden, über die Befreiung seiner unterdrückten männlichen Sexualität zu schwadronieren. Diesmal finde ich die Volte besonders geschmacklos. Ficken für Frieden, group sex for global sanity. Trotzdem: Wir haben seit einiger Zeit die Verabredung, alles, was dem anderen gerade einfällt (und sich zu sagen traut), ernst zu nehmen und gegebenenfalls einer genauen und rücksichtslosen Überprüfung zu unterziehen. In diesem Fall: Was würde es bedeuten, wenn eine kritische Masse von Menschen Aleksanders Rat befolgen würde? Wie überhaupt würde die dafür nötige Herde diskursiv zusammengetrieben werden können?
Ausnahmsweise tue ich Aleksander den Gefallen, mich selbst in den Mittelpunkt eines konkreten Beispiels zu stellen. Er findet, dass ich viel zu selten mit eigenen erotischen Fantasien befasst bin, er schätzt das diesbezügliche Gefälle zwischen uns als eklatant ein und lässt kaum Gelegenheiten aus, mir mit Anspielungen, wie zufällig auf dem Wohnzimmertisch platzierter, einschlägiger Lektüre oder Desktopverknüpfungen auf unserem gemeinsam genutzten PC, die auf pikante Sammlungen von Bildern und Videos verweisen, Anlässe zu erotischen Tagträumen zu bieten. Möglich, dass er es als besondere Form von Grausamkeit empfindet, wie hartnäckig ich diese stummen Impulse ignoriere. „Das ist dein Ding“, sage ich ihm, „es gibt mir nichts, deine Obsessionen zu teilen.“ Es ist nicht so, dass ich von ihnen nicht profitiere, aber wir müssen nicht unbedingt denselben Garten bestellen. In seinem Garten wächst mir einfach zu viel Unkraut. Und wer zu viel düngt, sieht sich bald einem hypertrophen Wachstum gegenüber, das nicht mehr schön ist und den Gärtner geistig und körperlich überfordert. Spricht man nicht auch von geilen Trieben, die keine Früchte tragen? Heute jedoch will ich mich einmal als Pflänzchen in seinen Garten der Lüste begeben und bunte Blüten treiben.
„Was du sagst, Al, finde ich bei genauerem Nachdenken überzeugend. Ich bin über mich selbst überrascht. Es gibt tatsächlich ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Akzeptanz von Gewalt unter Menschen, von Krieg als Mittel der Politik, von Bestrafung, Rache und Freiheitsberaubung auf der einen Seite und Sex auf der anderen.“
„Nicht wahr?“
„Wenn ein Staat Rassismus und Polizeigewalt gegen Minderheiten zulässt und Demonstranten sich berechtigt fühlen, Polizeistationen mitsamt ihren Insassen anzuzünden, wenn die Menschen massenweise Filme und Serien streamen können, in denen alle fünf Minuten irgendwelche Leute massakriert werden, aber Pornographisches als entwürdigend und unmoralisch zensiert wird, dann stimmt irgendwas Entscheidendes nicht. Mea Culpa! Den blutigen Thriller, den wir uns gestern Abend angeschaut haben, habe ich tatsächlich genossen, bei Mitchells Shortbus oder Noés Love war mir dann doch zu blümerant, als dass ich die Filme wirklich hätte genießen können. Peinlich berührt nehme ich innerlich Distanz und mir fallen sofort all die Lächerlichkeiten auf, die ich beinahe jedem noch so schlecht gemachten Thriller nachsehe.“
„Hört, hört! Wird die Saula jetzt doch noch zur Paula?“
Aleksanders Scherze waren schon besser. Folgendes Szenario: Der Gemüsehändler unten in der Straße hat neulich einen erbitterten Streit mit einem Typen gehabt, der seinen Lieferwagen in der Hofeinfahrt geparkt hat, um irgendwas auszuladen und danach im Café gegenüber noch sein zweites Frühstück einzunehmen. Seit ein paar Wochen liefert Ricardo sein Gemüse auch an Privatkunden aus und der Corona-Bote kam wegen des widerrechtlich geparkten Lieferwagens eine halbe Stunde lang nicht aus dem Hof raus. Als der Typ wieder in seinen Lieferwagen steigen wollte, wäre Ricardo beinahe handgreiflich geworden, er fluchte, bis dem anderen, der sich anscheinend in seiner Ehre verletzt sah, der Kragen platzte und damit drohte, Ricardo abzustechen. Ich kam zufällig vorbei, als der Streit eskalierte. Zum Glück kam es nicht zum Schlimmsten. Dennoch hätte ich den Streit schnell schlichten können, wenn ich den beiden Streithähnen einen spontanen Dreier zwischen den Kartons des Lieferwagens vorgeschlagen hätte. „Entspricht das ungefähr deinen Vorstellungen von einer Deeskalationsstrategie, Al? Jedenfalls könnte ich es mir sehr aufregend vorstellen, mit Sex in anderen Menschen das Gute hervorzulocken und meinen Beitrag zum Frieden zu leisten.“
„Du machst dich über mich lustig.“
„Keineswegs, ich nehme dich ernst, dich und das, was du sagst. Wenn du das ehrlich meinst, müsste es auch mir möglich sein, Streit und Gewalt lustvoll in ihr Gegenteil zu verkehren, in Liebe, Zärtlichkeit und Orgasmen. In meinem Beispiel wäre ich sogar gleich zweimal auf meine Kosten gekommen.“
„Mit einem schmierigen Gemüsehändler.“
„Du müsstest ihn mit meinen liebenden und begehrenden Augen sehen. Sollten wir nicht beide bereit sein, um des lieben Friedens Willen sogar Donald Trump einen zu blasen?“
„Würde dir das denn Spaß machen? Ich finde, Sex sollte nicht als Opfergabe betrachtet werden. Dir geht nicht wirklich einer ab, wenn du daran denkst, dem narzisstischen Fettwanst den Schwanz zu lutschen. Oder habe ich mich in dir getäuscht und du hast gerade dein Coming-out?“
„Klar finde ich die Vorstellung eklig. Der ganze Mann ist eklig. Das liegt möglicherweise an diesem Tabu in meinem Kopf, dass ich es als entwürdigend empfinde, einem fremden Mann den Schwanz zu lutschen. Selbst wenn er ihn vorher gewaschen haben sollte. Wenn wir uns deiner Utopie nähern wollen, müssen wir vermutlich hart trainieren, mühsam und entschlossen an uns arbeiten und alle Vorbehalte, Vorurteile und Vorhautphobien ablegen. Sind nicht alle Menschen schön? Ihre Schwänze, Vulven, Titten und Ärsche. Sind nicht alle Menschen wert, geliebt – und sexuell befriedigt zu werden? Oder würdest du da Unterschiede machen wollen?“
Aleksander gibt sich vorerst geschlagen, er schweigt eine Weile nachdenklich, hebt dann den Zeigefinger, sagt: „Gib mir eine Viertelstunde“ und zieht sich im Morgenmantel ins Bad zurück.
Für jede gute und die Gesellschaft verändernde Idee braucht es – eine Bewegung. Einen Kick-down-Start. Und eine Anführer*in. Eine Charismatiker*in. So wie Greta Thunberg. Oder Martin Luther King. Anders liegt die Sache bei Tarana Burke. Warum ausgerechnet ihr Hashtag #MeToo eine derartige Wirkung entfalten konnte, bleibt unerklärlich. Eine Anführerin dieser Bewegung ist sie mit Gewissheit nicht, so engagiert sie sich auch gegen sexuelle Gewalt gewandt haben mag. Viral wurde der Hashtag erst mit Alyssa Jayne Milano. Me-Too ist trotz der wichtigen Initiatorinnen vor allem ein Phänomen, bei dem gesellschaftliche Wirklichkeit auf unberechenbare Schwarmintelligenz traf. Und wie unberechenbar und irrational Schwarmintelligenz sein kann, können wir an den positiven wie negativen Folgen von Me-Too sehen. Sexuelle Gewalt gegen Frauen, auch sexualisierte Gewalt, werden zunehmend tabuisiert; aber nicht minder beinahe jede Form des Flirts und spontaner Zärtlichkeiten, sofern sie von Männern ausgehen (Ach ja: ungehemmt flirtende und die Körpergrenzen übertretende Frauen sind nach wie vor Schlampen!). Dass auch mir sexuelle Anspielungen von Männern, mit denen ich nicht verheiratet bin, eher Angst machen als Lust, ist ein Zeichen für die Schieflage der Geschlechter. Ich könnte das Kompliment für meine Figur oder meine Brüste (in meinem Alter!) durchaus genießen, wenn ich nicht befürchten müsste, diesen sichtbaren Genuss mit einem ungewollten, brutalen oder auch nur lächerlichen und halbherzigen Übergriff büßen zu müssen. Darum gerät das erotisch gemeinte Kompliment zunehmend in die Tabuzone, in der Asservatenkammer gleich neben historischen Masturbationsverboten und den Strafen für vorehelichen Geschlechtsverkehr. Hach, Masturbation ist ja nun wieder erlaubt, sogar geboten! Am besten täglich, der Gesundheit wegen. Aber das macht man/frau ja auch nur mit sich allein. Das scheint überhaupt der ungefährlichste und ideologisch unbedenklichste Sex zu sein, der mit sich selbst.
Die Me-Too-Bewegung oder auch Fridays-for-Future zeigen, wie wichtig (und unvorhersehbar) der richtige Moment für eine weltumspannende Bewegung ist. Im Jahr 1980 wären die Akteure ausgelacht worden, wahrscheinlich auch noch im Jahr 2000. Es kommt vielleicht sogar auf Monate und Tage an, auf die Kumulation von Ereignissen, auf die Hautes der Diskurse. Wann der richtige Moment für einen neuen Diskurs ist, wissen nur die Diskurse selbst. Und wenn dann eine Bewegung durch die Decke geht, weiß kein Mensch, welche Richtung sie langfristig nehmen und in welchem Maße sie irrlichtern wird, denn kein Mensch kann sie steuern. Wer ein diskursives Geschoss abzufeuern gedenkt, sollte gewieft genug sein, es mit einem Kreiselkompass auszustatten, damit es seine Richtung halbwegs beibehält. Die meisten enden ohnehin als Rohrkrepierer. Wie zum Beispiel die 2003 gegründete Bewegung „Fuck for Forest“, die ihre Umweltschutzprojekte mit ökologisch wertvollen Pornos finanziert. Sehr lustvoll, haarig und naturnah (meine Vagina hat noch keine Mohrrübe gesehen), aber weitgehend wirkungslos. Falscher Zeitpunkt, immer noch sehr verbreitete Vorbehalte gegen tätowierte Körper, tabuisierte Pornographie? Alles möglich. Aber irgendwie muss doch auch absehbar gewesen sein, dass „Fuck for Forest“ kein durchschlagender Erfolg beschieden sein würde.
Nun stelle ich mir Aleksander Pjotr Nekrasov als Anführer einer neuen Friedensbewegung vor. Sein Leitspruch respektive Hashtag: #FuckForPeace. Bei Facebook gibt es eine Gruppe gleichen Namens. 83 Personen haben das abonniert und der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 2014. Instagram weist immerhin 413 Beiträge auf. Al, dein Vorschlag kommt zur Unzeit! Oder auch gerade recht! Denn ein Hashtag ohne nennenswerte Beiträge hat Zukunft und ist noch nicht „ausgelutscht“. #FickenfürFrieden deprimiert mit ganzen 3 Beiträgen noch viel mehr. Entweder die Diskurse halten derzeit nicht viel vom Ficken, oder Aleksander hat gerade eine echte Marktlücke entdeckt, eine Lücke im Diskursmarkt. Marketingtechnisch würde Al allerdings mit #psilocybinforpeace besser liegen – schon wegen der Alliteration.
Der #blackouttuesday verzeichnet heute bald 20 Millionen Beiträge mit lauter schwarzen Quadraten, ich wette auf insgesamt 30 Millionen. Aber morgen ist Mittwoch. Und die black Postenden posten bald munter weiter bunte Bilder. Es bleibt abzuwarten, was der Hype für die Rechte der Schwarzen bringt. Vielleicht hat das von wem auch immer gefakte, aber eindrückliche, komplett schwarze #newyorktimescover die Chance, in die Mediengeschichte einzugehen. Für Aleksanders #worldwideorgyday (0 Beiträge bei Instagram, vielversprechender Kandidat unter den Pennystocks der Hashtagwolke) müssten die Titelblattgestalter der großen Tageszeitungen in ganz anderer Weise kreativ werden. Aber vermutlich würde die Sexspielzeugindustrie das Hashtag in kürzester Zeit gekapert haben.
„Okay“, sagt Aleksander, als er nach einer halben Stunde wieder auf dem Balkon erscheint, „ich versuche dein Beispiel ernst zu nehmen. Auch wenn du das nicht ernst gemeint haben kannst. Ich gebe zu, dass mir deine sexuelle Intervention arg zugesetzt hätte, wenn sie denn tatsächlich stattgefunden hätte. Ich bin zweifellos ein Kind meiner Zeit und meiner Kultur. Meine Eifersucht würde mich in so einem Fall sicher in eine tiefe Depression, in bodenlose Eifersucht und Wut versetzen, alles auf einmal. Ich würde Trennungsängste kultivieren, die Angst verlassen zu werden und die Angst, dich bestrafen zu müssen, indem ich dich verlasse. Dabei gäbe es überhaupt keinen Grund für eine Trennung. Ich müsste mich mit meinen falschen Besitzansprüchen auseinandersetzen, müsste lernen dich freizulassen. Immerhin geht es um deine Lust, deinen Körper, deine Gefühle. Ich habe noch einmal nachgelesen: Das Hormon Oxytocin, das beim Beischlaf freigesetzt wird, macht Menschen tatsächlich friedlicher. Und wenn das zwischen Paaren in einer festen Beziehung funktioniert, müsste es auch bei unverbindlichem Sex mit anderen funktionieren. Stelle ich mir jedenfalls vor.“
„Wäre da nicht die kulturelle Prägung, die uns ausgerechnet aggressiver macht, wenn wir erfahren, dass der Partner oder die Partnerin fremdgegangen ist. Die meisten Femizide gehen wahrscheinlich auf das Konto der Eifersucht und patriarchalen Besitzdenkens. Apropos unverbindlicher Sex – ist das wirklich deine Intention?“
„Wieso patriarchal? Du würdest doch auch ausflippen, wenn ich mit Renate schlafen würde, weil sie meinen Streit mit Ricardo schlichten wollte.“
„Weil es das patriarchale Denken ist, das uns Frauen eingeimpft wurde? Ich könnte mir denken, dass Frauen viel unbekümmerter mit promiskuitivem Sex umgehen würden, wenn der einen ähnlich hohen gesellschaftlichen Stellenwert hätte wie beispielsweise die private Altersvorsorge. Und wenn es dann auch guter Sex wäre, einer, der uns Frauen wirklich gefällt. Wahrscheinlich müsste dafür frauenfreundlicher Sex erst noch für ein paar Jahrzehnte Schulfach in der Oberstufe werden. Obwohl, die Schule würde einem wahrscheinlich den ganzen Spaß im Vorhinein vermasseln. Die Schule sorgt ja auch konsequent dafür, dass den jungen Menschen die Freude an der Literatur ausgetrieben wird. Oder an der Mathematik.“
„Das könnten die Medien viel besser.“
„Meinst du. Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Die Sexualerziehung durch Pornos treibt die widerlichsten Blüten. Und fördert vor allem männliche Fantasien zutage, denen sich Frauen auf die idiotischste Weise anzupassen versuchen. Deine world wide orgy wäre im Übrigen wie Weihnachten für Vergewaltiger und Kinderficker.“
„Man müsste eine Enklave für modernen, frauenfreundlichen Sex gründen, eine Keimzelle des sexuellen Fortschritts.“
„Eine Kommune? Einen Swingerclub? Reicht es nicht, wenn wir selbst, wir zwei beiden so eine Keimzelle werden?“
„Da siehst du’s, du ziehst dich letztlich doch immer wieder auf einen konservativen Standpunkt zurück. Was bringt eine Zweierbeziehung, ein Paar-Zelle für den Rest der Welt? Die da draußen bekommen davon doch gar nichts mit. Außerdem: wieso eigentlich werden? Sind wir’s denn nicht schon?“
Ich wiege mal provokativ den Kopf hin und her. Den Meisterbrief hält Pjotr wahrlich noch nicht in Händen. Umso aufregender, was es für ihn noch alles zu lernen gibt! „Al, dir geht es doch gar nicht um den Frieden in der Welt. Sei ehrlich, es geht dir um deine eigene Befriedigung. Wenn Renate nur deshalb mit dir schlafen würde, weil sie einen Streit schlichten will, wärst du in deiner Ehre gekränkt. Du würdest sie verachten, weil der Sex mit dir für sie nur Mittel zum Zweck wäre. Für guten Sex braucht es die gegenseitige Anziehung – und meistens eine gute Beziehung. Es gibt für Frauen kaum etwas Unbefriedigenderes als den One-Night-Stand. Beim Ficken für den Frieden würde der Orgasm Gap zugunsten der Männer fröhliche Urstände feiern. Warum sollten die Männer weiter abspritzen dürfen, während wir Frauen voller Mitgefühl für die armen, notgeilen Männer unsere Orgasmen weiterhin faken? Ficken für den Frieden? Vielleicht sollten die Männer erst mal unter sich damit beginnen, denn gerade zwischen ihnen liegt es doch seit Jahrtausenden im Argen. Wenn Männer mit Männern Sex haben, werden doch wohl auch die berühmten Bindungshormone ausgeschüttet. Es hätte überhaupt keinen Effekt, wenn ich Donald Trump einen blasen würde. Joe Biden müsste es tun. Und Trump müsste seinen Arsch für Bidens Schwanz mit Vaseline präparieren. Die Frage ist nur, ob die beiden überhaupt noch einen hoch kriegen würden. Wenn nicht, sollten sie aus dem Politikbetrieb ausscheiden. Überhaupt: Bei hochoffiziellen Staatsempfängen sollte es Sitte werden, dass die Staatenlenker zuallererst den öffentlichen Beischlaf zelebrieren. Das wäre ein Anfang! Putin liebt Trump, Trump liebt Kim Jong Un, Xi Jinping liebt Putin. Al, ich glaube, wir brauchen eine homosexuelle Revolution. Wenn alle Männer miteinander ficken würden, hätten wir ganz sicher eine friedlichere Welt.“
„Ausschließlich? Nur Männer untereinander?“
„Ach, warum ausschließlich? Aber für den Frieden solltet ihr Männer alles tun, was in eurer Macht steht.“
Die Sonne beginnt zu brennen. Unten stapelt Ricardo gerade Bananenkisten übereinander. Wir winken ihm zu. Vielleicht wird doch noch alles gut.